Die Niederlande haben 2002 als weltweit erstes Land aktive Sterbehilfe erlaubt, also das Töten Sterbenskranker auf Verlangen. Nun soll das auch für Kinder unter zwölf Jahren gelten. Deutsche Palliativmediziner sind entsetzt.
Angekündigt war die neue Verordnung bereits im vergangenen Jahr, ab Februar soll sie nun gelten: Schwer leidende Kinder unter zwölf Jahren dürfen in den Niederlanden künftig auf eigenen Wunsch aktive Sterbehilfe in Anspruch nehmen. Die Deutsche Palliativstiftung kritisiert das als eine „inakzeptable Entscheidung gegen das Leben“.
Thomas Sitte, selbst Palliativmediziner und Vorstandsvorsitzender der Stiftung, begründet diese Kritik. Und er hofft, dass es in Deutschland nicht mehr zu einer gesetzlichen Sterbehilferegelung kommt. Denn 2020 hatte das Bundesverfassungsgericht das bis dahin geltende Verbot der geschäftsmäßigen assistierten Sterbehilfe gekippt. Seitdem konnte sich der Bundestag auf keine neue Regelung einigen.
Herr Sitte, was ist falsch daran, sterbenskranken, schwer leidenden Kindern einen schnelleren Tod zu ermöglichen, wenn sie und ihre Eltern das wünschen?
Thomas Sitte: Alles daran ist falsch. Es ist ein absolut falscher Weg. Die Anzahl der Kinder, für die diese Regelung infrage kommt, ist sehr gering – sie liegt im niedrigen einstelligen Bereich im Jahr. Für diese Kinder braucht man kein Gesetz, für sie gibt es andere Wege.
Ich bin selbst in meiner Zeit, als ich in Kinderhospizen gearbeitet habe, von etlichen Eltern gebeten worden, dem Leiden ihres Kindes aktiv ein Ende zu bereiten. Denen habe ich dann gesagt: Warum müssen wir denn weiter ernähren, warum weiter beatmen? Das einzustellen, also Leben und Leiden nicht unnötig zu verlängern, ist doch auch ein Weg. Das hatten die gar nicht auf dem Schirm.
Zur Person
Thomas Sitte, 65, ist Facharzt für Anästhesiologie, Palliativmediziner und Autor zahlreicher Bücher. Er begleitet seit vielen Jahren sterbende Menschen und arbeitete längere Zeit in der ambulanten Palliativversorgung und auch im Kinderhospiz. Inzwischen widmet er sich vor allem der Situation sterbenskranker und alter Menschen in Pflegeeinrichtungen. 2010 rief er mit anderen die Deutsche Palliativstiftung ins Leben, deren ehrenamtlicher Vorstandsvorsitzender er seitdem ist. Für sein Engagement für Schwerkranke erhielt er 2023 das Bundesverdienstkreuz am Bande.
Aber hatten diese Eltern dann nicht die berechtigte Sorge, dass etwa die Ernährung einzustellen ein zu langes, qualvolles Sterben sein könnte?
Nein, die Sorge haben eigentlich nur sterbenskranke Erwachsene. Wann immer ich Eltern diesen Weg vorschlug, sind sie darauf eingegangen. Es ist auch keine berechtigte Sorge, weil es kein qualvolles Sterben ist. Diesen Kindern werden die Schmerzen mit entsprechenden Medikamenten genommen.
Wie stirbt man, wenn Ernährung und Flüssigkeitszufuhr eingestellt werden?
Nicht essen und nicht trinken ist am Lebensende der natürliche Weg. Der Körper weiß das. Er produziert dann eigenes „Cannabis“, „Opium“ und andere Hormone, die Leiden lindern. Wenn man sich als gesunder Mensch zu Tode hungern will, sieht das anders aus.
Das niederländische Innenministerium sagt zwar auch, die neue Regelung beträfe lediglich fünf bis zehn Kinder pro Jahr. Aber es seien nun mal so schwer erkrankte, dass bei ihnen die Möglichkeiten der Palliativmedizin nicht ausreichten, um ihr Leid zu lindern. Gibt es also doch Grenzen in der Palliativmedizin?
Die Fälle müssen Sie mir zeigen, bei denen die Möglichkeiten der Palliativmedizin nicht ausreichen, um Leid zu lindern. Ich kenne keinen einzigen, und ich habe mehr als zehntausend Menschen – auch viele Kinder – beim Sterben begleitet. So absurd das klingen mag, die Niederländer schließen nur eine Gesetzeslücke. Aus ihrer Sicht ist das folgerichtig. Die aktive Tötungshilfe gilt dort seit 2002, sie nun auf Kinder unter zwölf Jahren auszuweiten, ist der letzte Schritt zu ihrer Normalisierung. Deswegen war es falsch, schon den ersten Schritt zu gehen und eine aktive Tötungshilfe zu erlauben.
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Sie bezeichnen die aktive Sterbehilfe als Tötungshilfe?
Ja, weil es das für mich ist: Jemandem aktiv das Leben zu nehmen, ist töten. Was ich als Palliativmediziner dagegen tue, ist, den Menschen mithilfe von Therapien Lebensqualität geben – selbst im Sterben. Was viele zudem nicht wissen: Unsere Arbeit ist nachweislich lebensverlängernd, bei Krebspatienten etwa. Würden wir direkt bei der Diagnose schon hinzugezogen, könnten viele Schwererkrankte länger und besser leben. Stattdessen kommt Palliativversorgung meist erst ganz am Ende zum Einsatz, wenn wir nur noch das Sterben erleichtern können.