Durch Terror errichtete Lenin einst ein sozialistisches Großreich, heute wirft Wladimir Putin dem obersten Bolschewik Verrat an Russland vor. Historiker Stefan Creuzberger erklärt die Hintergründe.

Mit einem Putsch stürzte Wladimir Iljitsch Uljanow – besser bekannt als Lenin – Russland 1917 in Chaos und Bürgerkrieg, später errichtete er mit der Sowjetunion den ersten sozialistischen Staat. Dort galt Lenin einst als glorreicher Held der Oktoberrevolution, heute beschimpft Wladimir Putin den am 21. Januar 1924 verstorbenen Bolschewistenführer als Verräter Russlands.

Was bezweckt Putin, der gerade Krieg gegen die Ukraine führt, damit? Antwort weiß Stefan Creuzberger, Historiker und Experte für die Geschichte Russlands. Im Gespräch erläutert er, wie verbissen Lenin nach Macht strebte, welche Massenverbrechen der Berufsrevolutionär zu verantworten hat und warum Putin heute einen Konflikt mit dem Westen weiterführt, der bereits im Revolutionsjahr 1917 begann.

t-online: Professor Creuzberger, in der Sowjetunion genoss Wladimir Iljitsch Lenin kultische Verehrung, heute verdammt Wladimir Putin den kommunistischen Revolutionsführer als „Verräter“. Wie erklärt sich diese Wandlung?

Stefan Creuzberger: Wladimir Putin betreibt ein falsches Spiel; Lenins Verdammung im heutigen Russland ist nichts weiter als eine weitere Erscheinungsform der Geschichtsklitterung – wie sie der Kreml seit langer Zeit betreibt. Das russische Imperium kollabierte während des Ersten Weltkriegs unter anderem von seinen Rändern her; Finnland, die baltischen Staaten und etwa auch die Ukraine strebten nach Unabhängigkeit. Letztere will Putin mit seinem Krieg nun wieder ins Imperium zurückzwingen.

Daher stellt er die Behauptung auf, die Existenz der Ukraine wäre nichts weiter als ein historischer Fehler Lenins?

Auf diese Weise will Putin seinem Versuch, die Ukraine zu zerschlagen, Legitimation verleihen: Die Ukrainer wären demnach weder eine eigenständige Nation, noch würden sie über einen souveränen Staat verfügen. Lenin wusste es besser als Putin.

Weil Lenin einst bei der Umwandlung des Imperiums der Zaren in die Sowjetunion der Tatsache Rechnung trug, dass es sich um ein Vielvölkerreich handelt?

So ist es. Die Zaren unterbanden seit dem 19. Jahrhundert innerhalb ihres multiethnischen Reiches kategorisch alle Formen eines nationalen Erwachens, auch daran scheiterte das Russische Imperium letztlich. Lenin wollte diese Spannungen einhegen, indem er eine wesentlich liberalere Nationalitätenpolitik betrieb. So zum Beispiel in der seit 1919 existierenden Ukrainischen Sozialistischen Sowjetrepublik wie auch in den anderen Teilen des Landes. In der ersten Verfassung der Sowjetunion bekamen die Teilrepubliken gar das Recht zum Austritt eingeräumt, was allerdings eher theoretischer Natur gewesen ist. Putin missbraucht Lenin nun für seine Ziele, was er weitgehend ungestraft tun kann, da er seine Identitätspolitik für das heutige Russland eher am Beispiel von Lenins Nachfolger Josef Stalin und den Zaren des 18. und 19. Jahrhunderts betreibt.

Zur Person

Stefan Creuzberger, Jahrgang 1961, lehrt Zeitgeschichte an der Universität Rostock und leitet zugleich die Forschungs- und Dokumentationsstelle des Landes Mecklenburg-Vorpommern zur Geschichte der Diktaturen in Deutschland. Der Historiker ist Experte für die Geschichte Russlands und Mitherausgeber der „Akten zur Auswärtigen Politik der Bundesrepublik Deutschland„. 2009 veröffentlichte Creuzberger sein Buch „Stalin. Machtpolitiker und Ideologe„, 2022 erschien „Das deutsch-russische Jahrhundert. Geschichte einer besonderen Beziehung„, das für den Deutschen Sachbuchpreis nominiert war.

Lenin wurde 1870 als Untertan des Zarenreichs geboren; als er am 21. Januar 1924 starb, hatte er mit der Sowjetunion den ersten sozialistischen Staat der Erde geschaffen. Wie ist ihm dies gelungen?

Lenins Familie war im Zarenreich recht gut situiert. Es ist eine Ironie der Geschichte, dass ausgerechnet Lenin später die alte zarische Ordnung endgültig beseitigen sollte, von der sein Vater profitiert hatte. Dieser Vater hatte den Aufstieg in den niederen Adel geschafft, die Familie lebte nicht zuletzt von ihrem Landbesitz. Geprägt war sie insbesondere von Zar Alexander II. …

… der wegen der Befreiung der leibeigenen Bauern von 1861 als „Zar-Befreier“ in die russische Geschichte einging.

Und nicht nur das. Alexander veranlasste wichtige Reformen in den Bereichen von Verwaltung, Justizwesen und Militär, um Russland nach dem verlorenen Krimkrieg wieder konkurrenzfähig mit den westlichen Mächten zu machen. Manches war erfolgreich, anderes eher weniger. Der Familie Uljanow jedenfalls ging es gut.

Allerdings gingen Lenins älterem Bruder Alexander die Reformen nicht schnell und weit genug: 1887 wurde er hingerichtet wegen der Beteiligung an einem geplanten Attentat auf den Zaren Alexander III.

Das war eine tiefe Zäsur für die Familie, sie war zukünftig stigmatisiert. Lenin selbst war zunächst sicher apolitisch gewesen, nach dem gewaltsamen Tod des Bruders änderte sich das. Alexander Uljanow gehörte den sogenannten Narodniki an, intellektuelle Volkstümler, die den Sozialismus zu den Bauern tragen wollten. Damit beschäftigte sich der junge Lenin nun selbstverständlich, sein Studium der Rechtswissenschaften trug dann ein Weiteres zu seiner ideologischen Radikalisierung bei.

Share.
Exit mobile version