Der Erste Weltkrieg endete 1918, doch für Adolf Hitler und zahlreiche Deutsche war dieser Konflikt erst 1940 vorbei. Historiker Gerd Krumeich erklärt, was der Erste mit dem Zweiten Weltkrieg zu tun hat.

Es ist Wissen aus der Schule: 1918 war der Erste Weltkrieg vorbei, Deutschland hatte verloren. Doch war der Krieg wirklich zu Ende? Abgeschlossen hatten die Deutschen noch lange nicht mit diesem Konflikt. Der Versailler Vertrag wies allein Deutschland die Kriegsschuld zu, das sorgte für Empörung und Verbitterung.

Emotionen, die Adolf Hitler für seine Zwecke zu nutzen wusste. Das sagt mit Gerd Krumeich einer der renommiertesten Experten für den Ersten Weltkrieg und Autor des Buches „Als Hitler den Ersten Weltkrieg gewann“. Im Gespräch erklärt Krumeich, wie die unbewältigte Niederlage Deutschlands 1918 das Verhältnis zwischen Hitler und den Deutschen bis in den Zweiten Weltkrieg mitbestimmte.

t-online: Professor Krumeich, Sie vertreten eine provokante These: 1940 habe Adolf Hitler den Ersten Weltkrieg gewonnen. Wie kommen Sie zu diesem Schluss?

Gerd Krumeich: Selbstverständlich handelt es sich dabei um eine Provokation, die aber Hand und Fuß hat. Nach dem deutschen Sieg über Frankreich im Juni 1940 erschien im nationalsozialistischen „Völkischen Beobachter“ eine Illustration: Sie zeigt einen deutschen Soldaten des Zweiten Weltkriegs, der seinen aus einem Schützengraben des Ersten Weltkriegs heraustretenden Kameraden eine Reichskriegsflagge überreicht. Den Zeitgenossen war die Bedeutung zweifelsohne bewusst: So hat Hitler den Ersten Weltkrieg gewonnen.

Deutschlands Sieg über Frankreich 1940 sollte also die als Schmach empfundene deutsche Niederlage von 1918 und den als Demütigung angesehenen Friedensvertrag von Versailles 1919 tilgen?

Richtig. Hitler hatte seinen Anhängern von Anfang an versprochen, Deutschland zu alter „Größe und Stärke“ zurückzuführen. Kaum waren die Nationalsozialisten 1933 dann an der Macht, begann er Schritt für Schritt das „Diktat von Versailles“ zu beseitigen. Mal mit mehr, mal mit weniger Einverständnis seitens der westlichen Alliierten. Mit der Kapitulation Frankreichs am 22. Juni 1940 während des Zweiten Weltkriegs war Hitler dann am Ziel.

Diese Kapitulation genoss der deutsche Diktator sichtlich: Die französische Delegation musste auf derselben Waldlichtung bei der Stadt Compiègne und im selben Eisenbahnwaggon kapitulieren, in dem die Deutschen am 11. November 1918 den Waffenstillstand mit den Alliierten unterzeichnet hatten.

Hitler strahlte wie noch nie in seinem Leben, es gibt ja noch die Bilder davon. Er hatte es sich auch nicht nehmen lassen, persönlich nach Compiègne zu reisen: Es war sein größter Tag. Unter der eben erwähnten Illustration im „Völkischen Beobachter“ standen übrigens die Worte: „Und ihr habt doch gesiegt“. Mehr Symbolik geht nicht.

Zur Person

Gerd Krumeich, Jahrgang 1945, ist einer angesehensten Experten zur Geschichte des Ersten Weltkriegs. Der Historiker ist Mitgründer des Weltkriegsmuseums Historial de la Grande Guerre im französischen Péronne, kürzlich erschien mit „Als Hitler den Ersten Weltkrieg gewann. Die Nazis und die Deutschen 1921–1940(Herder-Verlag) Krumeichs neuestes Buch.

Eigentlich fand diese Formel nur Erwähnung in Zusammenhang mit den „gefallenen Kämpfern“ der NS-Bewegung vor der Errichtung der Diktatur 1933. Warum nun in diesem Kontext?

Es war der Zeitpunkt, in dem sich zum ersten Mal die gesamte NS-Bewegung mit Deutschland identisch fühlen konnte. 1940 hat Hitler Frankreich geschlagen und Revanche für den Ersten Weltkrieg genommen. Große Teile Frankreichs waren nun von der Wehrmacht besetzt, so wie die Franzosen mit anderen Alliierten nach dem Waffenstillstand von 1918 in große Teile des Rheinlands einmarschiert waren. Damit war Hitler auf dem Höhepunkt seines Ansehens bei den Deutschen, selbst strikte Anti-Nazis applaudierten ihm damals.

In Ihrem Buch „Als Hitler den Ersten Weltkrieg gewann“ attestieren Sie den Deutschen nach 1918 ein nicht bewältigtes Kriegstrauma, das Hitler und die Nationalsozialisten zu nutzen wussten. Wie ist das gemeint?

Zunächst möchte ich die Dimensionen einmal verdeutlichen: Im Ersten Weltkrieg sind zwei Millionen deutsche Soldaten gefallen, rund viereinhalb Millionen kehrten als Kriegsversehrte zurück. Das war für Deutschland ohne jeden Zweifel eine traumatische Erfahrung allergrößten Ausmaßes. Aber wie sah nun der Umgang der Weimarer Republik mit den vielen Millionen heimgekehrten Soldaten aus? Sie sollten sich wieder einreihen – und still sein. Die Trauerbewältigung ist damit nicht nur misslungen, sie war quasi verboten.

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