Russland bekriegt die Ukraine – brutal und rücksichtslos. Warum sich das Wesen des Kriegs seit dem Mittelalter kaum geändert hat, erklärt Historiker Dan Jones. Und warum er trotzdem zuversichtlich für die Zukunft ist.

Das Mittelalter gilt als wahrhaft finster: Grausame Kriege und furchterregende Seuchen haben die Menschen damals heimgesucht. Zivilisierter geht es in unserer Gegenwart nicht zwangsläufig zu, sagt Historiker Dan Jones. Und verweist auf Russlands Angriffskrieg gegen die Ukraine. Gerade hat der britische Mittelalterexperte mit „Essex Dogs“ seinen ersten historischen Roman in Deutschland veröffentlicht.

Weshalb Wladimir Putins Treiben historisch gesehen keineswegs neu sei, die Zukunft noch Schlimmeres bereithalten könnte und wir bis vor Kurzem in einer historischen Anomalie gelebt hätten, erklärt Jones im Interview.

t-online: Herr Jones, Sie sind Experte für das Mittelalter und seine zahlreichen Kriege. Machen Sie Ähnlichkeiten zwischen den kriegerischen Konflikten unserer Gegenwart und damals aus?

Dan Jones: Das Wesen des Krieges hat sich seit Jahrtausenden nicht wesentlich geändert – nur die zur Verfügung stehenden Mittel und Waffen. Nehmen wir die Anfangsphase der russischen Invasion der Ukraine 2022. Putin entfachte einen Krieg des Terrors: Russische Soldaten zogen plündernd und mordend durchs Land, sie zerstörten und vergewaltigten, genau wie es andere Krieger Jahrhunderte zuvor getan hatten. Statt mit Schwertern, Lanzen und Bögen sind moderne Soldaten nun aber mit Maschinengewehren, Panzern und Artillerie ausgestattet.

Zunehmend auch mit Drohnen und anderen Erzeugnissen der Hochtechnologie.

So ist es. Wir leben etwa durch die Fortschritte von Künstlicher Intelligenz und synthetischer Biologie in einer Zeit revolutionärer Veränderungen – wie es vor Jahrtausenden mit der Sesshaftwerdung der Menschheit und der Entwicklung der Landwirtschaft der Fall gewesen ist. Oder mit den Anfängen der Industriellen Revolution seit der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts. Über allem steht schließlich noch die Existenz der Atombombe: Wir sind imstande, das menschliche Leben auszulöschen. Buchstäblich jeden Mann, jede Frau, jedes Kind auf diesem Planeten. Die größte Bedrohung für die Menschen in Mittelalter und Früher Neuzeit hingegen waren Kriege und Seuchen.

Beides hielten zumindest die Europäer für Relikte der Vergangenheit – bis das Coronavirus und Russlands Aggression uns eines Besseren belehrten. Waren wir naiv?

Naiv ist ein zu hartes Wort. Für die meisten Generationen in der Geschichte waren Krieg und Instabilität eine Art Norm menschlicher Existenz. Wir lebten in einer historischen Anomalie – zumindest in Europa seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs bis vor wenigen Jahren. Es war eine Zeit von allgemeinem Frieden und wachsendem Wohlstand, deren Ende uns nun wahrscheinlich endgültig bevorsteht. Uns erwarten brutalere und aggressivere Zeiten, denen wir uns stellen müssen.

Zur Person

Dan Jones, Jahrgang 1981, ist britischer Historiker und Journalist. Jones hat zahlreiche Bestseller zur Geschichte des Mittelalters und der Frühen Neuzeit veröffentlicht, auch durch Podcasts und Fernsehdokumentationen erlangte der Cambridge-Absolvent Popularität in Großbritannien und den USA. 2023 erschien sein Sachbuch „Mächte und Throne. Eine neue Geschichte des Mittelalters„, am 15. Februar 2024 kommt mit „Essex Dogs“ bei C.H. Beck Jones‘ erster historischer Roman in Deutschland heraus. Es ist der Beginn einer Trilogie.

Keine sonderlich angenehme Vorstellung …

Die großen Religionen versuchen, dies mit einer Art spirituellem Überbau in Einklang zu bringen und in einem kosmischen Sinne zu rationalisieren. Für uns ist es nun eine traumatische Erfahrung, Putins Krieg hat unsere Welt erschüttert. Hoffen wir, dass er nicht noch viele Jahre herrschen wird. Und dass die wertebasierte globale Ordnung standhalten wird. Denn sie ist ein großer Fortschritt unserer Moderne gegenüber dem Mittelalter.

Bleiben wir im Mittelalter. Sie haben Sachbücher zu diesem Thema veröffentlicht, nun kommt mit „Essex Dogs“ Ihr erster historischer Roman in Deutschland heraus: Warum haben Sie das Genre gewechselt?

Im Laufe der Jahre wurde ich immer gefragt, ob ich nicht auch einmal Belletristik schreiben wolle. Die Frage war naheliegend, weil in meinen bisherigen Büchern so viele farbenfrohe Szenen und Charaktere vorgekommen sind, die besten Stoff für einen Roman darstellen. Ich war mir unsicher – und habe immer verneint. Zumal ich auch noch reichlich Ideen für Sachbücher hatte.

Wie kam es dann trotzdem zu „Essex Dogs“?

Mein 40. Geburtstag näherte sich. Ich hatte das Gefühl, dass ich einmal etwas anderes versuchen sollte. So wurden die „Essex Dogs“ geboren.

Das Buch beginnt mit einer eindrucksvollen Szene: Die zehnköpfige Söldnertruppe der „Essex Dogs“ nähert sich in einem Landungsboot der Küste der Normandie. Nur schreiben wir nicht das Jahr 1944, als die westlichen Alliierten dort die Front gegen Nazi-Deutschland eröffneten, sondern das Jahr 1346. Warum spielt Ihr Roman zu Beginn des Hundertjährigen Krieges zwischen England und Frankreich?

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