Türmer: Viele Menschen ziehen sich politisch zurück, gerade weil die sozialen Fragen von den linken Parteien nicht ausreichend angesprochen werden. Daran sind auch unsere Parteien, SPD und Grüne, mit schuld.
Aber wollen die Leute auch die Lösungen, die Sie nun fordern? Eine interessante Erkenntnis aus „Triggerpunkte“ ist, dass gerade viele in den unteren Klassen, die wenig verdienen, sehr skeptisch bei der Erhöhung von Sozialleistungen sind. Die Sorge vor der „sozialen Hängematte“ ist dort verbreitet. Es gibt eine Abgrenzung nach unten, ein „Nach-Unten-Treten“. Was schließen Sie daraus?
Stolla: Ich glaube, Menschen fehlt vor allem die Anerkennung für ihre harte Arbeit. Und das verstehe ich auch: Die Produktivität steigt und zugleich sinken die Reallöhne. Wir erleben zunehmend, wie Menschen gegeneinander ausgespielt werden. Dagegen müssen wir ankämpfen und klarmachen, dass niemandem geholfen ist, wenn die Ärmsten noch ärmer werden. Im Gegenteil: Der Sozialstaat ist kein Geschenk an Arme, sondern eine Absicherung für uns alle.
Aber sie spielen sich ja auch selbst gegeneinander aus.
Stolla: Ja. Konservative sind sehr gut darin, den Menschen diese Scheinkonkurrenz einzureden. Die politische Linke muss das besser entlarven. Sich gegeneinander ausspielen zu lassen, hilft niemandem. Es braucht beides: Die Löhne müssen hoch und gleichzeitig müssen Arbeitslose unterstützt werden, statt ihnen Komplettkürzungen anzudrohen.
Türmer: Die Konservativen erzeugen diese Stimmung aus einem bestimmten Grund: Sie wollen ablenken von der Frage danach, wie es sein kann, dass die Vermögen der Reichsten immer weiter steigen und nicht angefasst werden. Die Ampel geht genau diese Gerechtigkeitsfrage viel zu wenig an. Stattdessen lassen wir uns mit den Debatten um eine möglichst harte Gangart den Ärmsten gegenüber von Konservativen und Rechten treiben, anstatt eigene Lösungen anzubieten. Was auch daran liegt, dass mit der FDP eine Lobbyvertretung der Superreichen in der Ampel sitzt. Darauf dürfen SPD und Grüne aber keine Rücksicht mehr nehmen, das tut die FDP umgekehrt auf uns ja auch nie.
Haben Sie Hoffnung, dass Ihr Aufruf am Gesetzentwurf noch etwas ändern wird, wenn er jetzt bald in den Bundestag kommt?
Stolla: Ich weiß, dass es in der Grünen-Bundestagsfraktion große Kritik an den Vollsanktionen gibt. Um ehrlich zu sein, wird das aber allein nicht reichen. Es braucht Druck von außen, aus der Gesellschaft. An den Bauernprotesten sieht man ja, dass die Ampel darauf reagiert und Kürzungen zurücknimmt.
Türmer: Es ist bedauerlich, dass wir keine Traktoren haben. Aber wir werden trotzdem einiges auffahren, um zu zeigen, dass es so nicht geht. Ich nehme auch in der SPD-Fraktion den Willen wahr, am Gesetzentwurf noch etwas zu verbessern.
Die Ampelparteien kommen neuesten Umfragen zufolge nur noch auf 31 Prozent Zustimmung. Ist damit der Tiefpunkt erreicht?
Stolla: Das haben sie selbst in der Hand. Wäre ich die Ampel, würde ich dringend in den Krisenmodus schalten. Sie muss aufhören, die Menschen zu verunsichern, und das funktioniert nur mit sozialer Politik. So beschafft sie sich wieder Mehrheiten.
Haben Sie das Gefühl, dass diese Regierung noch irgendetwas Großes zustande bringt? Oder ist es bis zur Wahl 2025 nur noch Mangelverwaltung?
Türmer: Das Jahr 2024 hat jedenfalls mit einem sehr schlechten Gefühl angefangen. Aber ich habe die Hoffnung, dass sich angesichts des Rechtsrucks alle in der Ampel darauf besinnen, dass es eine andere, viel stärker sozialdemokratische Politik braucht.
Woher nehmen Sie den Optimismus?
Türmer: Als Sozialdemokrat ist man Kummer gewohnt und macht trotzdem mit voller Überzeugung weiter. Denn es geht um die Sache!
Frau Stolla, sind Sie auch noch optimistisch?
Stolla: Ich glaube, ohne Druck macht die Ampel keine großen Sprünge. Mir ist schleierhaft, was die Ampel noch Gutes hinbekommen will, ohne mehr Geld zu investieren und umzuverteilen. Das ist und bleibt der Knackpunkt.
Frau Stolla, Herr Türmer, vielen Dank für das Gespräch.