Der Verein „Zweitzeugen“ sammelt Geschichten von Holocaust-Überlebenden und gibt sie an junge Menschen weiter. Wachsender Antisemitismus in Klassenräumen besorgt die Mitglieder.
Ein Hotelzimmer wurde für Nina Taubenreuther zum Wendepunkt ihres Lebens. Denn ihr Einzelzimmer war größer als der Raum, den sie am Wochenende vor ihrem Hotelaufenthalt gesehen hatte: ein Zimmer, das sich 16 Geflüchtete teilen müssen. Dieser Kontrast ließ sie innehalten und brachte sie dazu, ihr Leben zu überdenken. Heute ist die 45-Jährige Geschäftsführerin des „Zweitzeugen e.V.“, einem Verein, der Holocaust-Geschichten an junge Menschen weitergibt, um sie für Demokratie, Toleranz und Menschlichkeit zu sensibilisieren.
Ziel des Vereins ist es, die Erinnerungen von Holocaust-Überlebenden an jüngere Generationen weiterzugeben. Dafür hat der Verein 38 Zeitzeugen interviewt und ihre Geschichten aufbereitet, um sie in Schulen und anderen Lernorten in Workshops zu präsentieren. Die Stadt Köln hat den Verein dafür im vergangenen Jahr mit dem Ehrenamtspreis ausgezeichnet.
„Geschichten berühren die Menschen und vermitteln Wissen jenseits von Zahlen und Daten aus Geschichtsbüchern. Sie ermutigen, selbst aktiv zu werden, und helfen uns, unsere Demokratie zu schützen“, betont Taubenreuther. Besonders wichtig sind ihr die Workshops mit Kindern und Jugendlichen. „Wir wollen zeigen, wie wichtig es ist, Vorurteile abzubauen und Verantwortung für unsere Gesellschaft zu übernehmen.“
Die Arbeit des Vereins ist gerade jetzt herausfordernd. Die Zunahme von Antisemitismus in Schulklassen bereitet Taubenreuther und ihrem Team Sorgen. „Wir erleben, dass antisemitische Haltungen zunehmend salonfähig werden. Das ist erschreckend und zeigt, wie wichtig unsere Arbeit ist.“ Gleichzeitig sieht sie bei vielen jungen Menschen großes Interesse und Bereitschaft, über schwierige Themen zu sprechen. „Kinder und Jugendliche haben Fragen und wollen verstehen. Dieses Interesse ist der Grundpfeiler unserer Arbeit.“
Ein besonderes Element der Workshops ist das Schreiben von Briefen an die Holocaust- Überlebenden. Während viele Briefe voller Mitgefühl und Dankbarkeit sind, gibt es auch Jugendliche, die sich aufgrund von Vorurteilen verweigern, einen Brief zu verfassen. Für Taubenreuther ist das ein Zeichen dafür, wie wichtig es ist, nicht nur die Kinder, sondern auch die Lehrkräfte zu stärken: „Ohne starke Lehrkräfte können wir diesen Entwicklungen nicht angemessen begegnen.“
Der Verein hat bis heute deutschlandweit mehr als 43.000 Kinder und Jugendliche zu zweiten Zeugen – eben „Zweitzeugen“ – gemacht. Knapp 100 Freiwillige und 21 Hauptamtliche arbeiten daran mit. „Unsere Arbeit ist nur möglich, weil so viele Menschen ihre Zeit und Energie investieren“, sagt Taubenreuther.