Die Ampelkoalition ist auseinandergebrochen und Deutschland steht vor politisch unruhigen Zeiten. Politologe Gero Neugebauer erklärt im Interview, warum der Kanzler dennoch Neuwahlen hinauszögert.

Im politischen Berlin haben sich in den vergangenen Tagen die Ereignisse überschlagen. Die Ampelkoalition ist in die Brüche gegangen, schon bald sollen in Deutschland Neuwahlen abgehalten werden. Der Druck auf Kanzler Olaf Scholz wächst beinahe stündlich: Die Opposition drängt ihn dazu, so schnell wie möglich im Bundestag die Vertrauensfrage zu stellen. Der SPD-Politiker wollte dagegen die Vertrauensfrage erst im Januar stellen und Neuwahlen für Anfang März organisieren.

Aber kann sich Scholz so lange im Kanzleramt halten?

Der Politikwissenschaftler Gero Neugebauer hält eine schnelle Vertrauensfrage für unnötig. Im Interview mit t-online erklärt er, warum Scholz Neuwahlen hinauszögern will und warum er damit sogar Oppositionsführer Friedrich Merz (CDU) schwächen könnte. Außerdem spricht Neugebauer eine deutliche Warnung aus: „Diese Situation begünstigt all jene, die Zweifel an der Demokratie säen.“

t-online: Herr Neugebauer, das Aus der Ampelkoalition hat die Republik aufgerüttelt. Woran ist die Bundesregierung Ihrer Meinung nach gescheitert?

Gero Neugebauer: Es ist überdeutlich geworden, dass die Ampel die wichtigsten Voraussetzungen einer Koalition nicht erfüllt hat: den Willen, bei Streitigkeiten Konsens zu erzielen, und dass die Chemie zwischen den handelnden Personen stimmen muss. Es ist auch erkennbar geworden, dass Scholz wohl befürchtete, keine Chance mehr zu haben, in einem zweiten Anlauf erneut Kanzler werden zu können. Zumindest hat er das in seiner Rede anklingen lassen.

Gero Neugebauer (*1941) ist ein deutscher Politikwissenschaftler. Er war lange als wissenschaftlicher Mitarbeiter am Otto-Suhr-Institut der Freien Universität Berlin tätig. Seine Schwerpunkte sind die Parteienforschung sowie die deutsche Innenpolitik und Zeitgeschichte. Neugebauer gilt als Experte für die Entwicklung der SPD.

Und wie war Ihr ganz persönlicher Eindruck von den Entwicklungen?

Die erste Frage, die ich mir stellte, war: Wer wird jetzt die Deutungshoheit gewinnen? Lindner erinnert fatal an Otto Graf Lambsdorff, der 1982 den Bruch der sozialliberalen Koalition provoziert hat. Scholz hingegen hat eine sehr persönliche Rede gehalten, die Verlässlichkeit Lindners dabei infrage gestellt.

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Wer also hat die Deutungshoheit über das Ampel-Aus?

Scholz war überzeugender. Denn seine Rede hat überrascht, war persönlicher und hat letztlich auch ein Gefühl ausgedrückt, das sich schon länger in der Bevölkerung breitgemacht hat: Der Bundeskanzler hat nicht die Führung geliefert, die er versprochen hat zu liefern. Immer wieder seien seine Vorschläge zu Kompromissen durch öffentlichen Streit übertönt worden, sagte er etwa sinngemäß.

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Lindner wirft Scholz nun den kalkulierten Bruch der Koalition vor. Warum überzeugt er Sie damit nicht?

Der kalkulierte Bruch ist von Lindner ausgegangen. Der FDP-Chef hat wohl nur ein Alibi gesucht, um aus der Koalition rausgeschmissen zu werden. Er hat das Aus der Ampel letztlich provoziert, um die Deutungshoheit zu gewinnen.

Doch Lindners Strategie ging nicht auf?

Nein, er hat sich verkalkuliert: Wer will denn jetzt noch mit ihm koalieren? Seit Antritt der Ampel haben Lindner und die FDP die Opposition in der Regierung gespielt. Jetzt macht er deutlich, künftig wieder Finanzminister werden zu wollen. Das ist alles reichlich kühn.

Scholz bekommt nun vor allem von der Union viel Druck, sofort die Vertrauensfrage zu stellen und nicht bis Januar zu warten. SPD und Grünen sind weitestgehend die Hände gebunden, Scholz hat keine Mehrheit mehr im Bundestag. Kann er das überhaupt bis Januar durchhalten?

Scholz nimmt aus taktischen Gründen diese Haltung ein. Er kann nun Themen für den Wahlkampf vorbereiten. Er wird zudem versuchen, der Bevölkerung zu signalisieren: Wir sind in der Lage, dem Bundestag gesellschaftlich wichtige Vorhaben zu präsentieren. Er will also das Gemeinwohl in den Vordergrund stellen und damit Druck auf die Union ausüben. Dabei wird sich Scholz wohl auf die Themen Steuer- und Migrationspolitik fokussieren.

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Damit spielt er den Ball zurück in die Hälfte der Union und der FDP. Denn wenn eine Partei in diesen Politikbereichen keine Reformen unterstützt, macht sie deutlich, dass ihr Parteiinteressen wichtiger als die des gesamten Landes sind. Ob Scholz die Verzögerung der Vertrauensfrage durchhalten kann, hängt stark vom öffentlichen Druck – also von Medien und Bevölkerung – ab.

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