Als im vergangenen Oktober das wegweisende “Nur Ja heißt Ja”-Gesetz verabschiedet wird, atmet Spanien auf: endlich Schluss mit der Gewalt gegen Frauen, so die Hoffnung. Eine neue Mordwelle nährt die Zweifel an der Sinnhaftigkeit des Gesetzes. Zu Recht?
Der letzte Monat des Jahres 2022 ist als “schwarzer Dezember” in die spanische Geschichte eingegangen: Elf Frauen wurden von ihren aktuellen oder früheren Partnern ermordet, der Schock im Land sitzt tief. Keine Nachrichtensendung ohne einen Beitrag zu sexualisierter Gewalt, keine Tageszeitung ohne einen entsprechenden Kommentar. Und auch im Januar nimmt das Morden kein Ende, bis zu diesem Freitag starben sechs Frauen und ein achtjähriges Mädchen an den Folgen von Missbrauch oder einer Vergewaltigung.
Dabei hatte man nach der Einführung des bahnbrechenden “Nur Ja heißt Ja”-Gesetzes eigentlich gehofft, den Kampf gegen sexuelle Gewalt gegen Frauen endlich im Griff zu haben. “Es ist unmöglich, angesichts des von geschlechtsspezifischer Gewalt geprägten Lebens so vieler Frauen keine Wut und keinen Schmerz zu empfinden” twitterte Gleichstellungsministerin Irene Montero ob der Taten.
Dass Spanien neben seinem Image als traumhafte Urlaubsdestination in den Augen vieler Mitteleuropäer immer noch den Ruf eines erzkatholischen Macho-Landes innehat, hat vor allem mit der Geschichte des Landes zu tun: Während der faschistischen Franco-Diktatur waren Frauen bis weit in die 1970er-Jahre Menschen zweiter Klasse, durften kein eigenes Bankkonto besitzen oder alleine ins Ausland reisen. Ein Erbe, das bis heute wirkt, auch wenn die Lage spätestens seit dem grausamen Mord an Ana Orantes längst nicht mehr so eindimensional ist.
1997 war die Mutter von 11 Kindern nach 40 Jahren ehelicher Gewalt an die Presse gegangen und hatte öffentlich von ihrem Leiden berichtet – nachdem entsprechende Anzeigen bei der Polizei immer wieder ins Leere gelaufen waren. Keine zwei Wochen später übergoss der Ex-Mann Orantes mit Benzin und zündete sie an.
Vergewaltigung auf WhatsApp
Überall in Spanien gingen damals Menschen gegen die Gewalt auf die Straße, am Anfang wenige Hundert, später Tausende. Ein zuerst langsames, dann immer schnelleres Umdenken setzte einen Prozess in Gang, der bis heute anhält. Vorläufiger Höhepunkt war die Einführung des sogenannten “Nur Ja heißt Ja”-Gesetzes im Oktober vergangenen Jahres. Als eines der ersten Länder Europas verlangt das spanische Recht nun die ausdrückliche Zustimmung zu sexuellen Handlungen, einen Unterschied zwischen sexuellem Missbrauch und sexuellem Angriff gibt es nicht mehr.
Genau diese Unterscheidung war es, die 2016 die iberische Halbinsel ein weiteres Mal erschütterte und letztendlich die wegweisende Gesetzesnovelle anstieß: Am Rande der traditionellen Stierhatz in Pamplona waren fünf Männer über eine 18-Jährige hergefallen. “Das Rudel” (“La Manada”), wie sich die Männer selbst nannten, filmte die orale, vaginale und anale Vergewaltigung der Frau, ließ sie anschließend weinend und zerstört am Tatort zurück und verbreitete das Video später per WhatsApp weiter.
Weil ein Gericht die Passivität der jungen Frau als fehlendes Zeichen von Widerstand wertete, kamen die Täter damals mit dem mildesten möglichen Strafmaß davon: neun Jahre Gefängnis. Das Urteil löste einen Sturm der Entrüstung im Lande aus, später revidierte Spaniens Oberster Gerichtshof die Entscheidung und verhängte die Höchststrafe von 15 Jahren: “Was soll eine 18-Jährige, bedroht und niedergezwungen von fünf erwachsenen Männern, schon an Widerstand leisten?”, fragten die Obersten Richter damals in ihrer Urteilsbegründung rhetorisch. Ein paar Jahre später, nach endlosen Debatten und weiteren Vergewaltigungen und Morden ist seit kurzem “Nur Ja heißt Ja” in der spanischen Verfassung verankert.
“Faschos in Roben”
Doch das neue Gesetz funktioniert bislang nur bedingt: Im “schwarzen Dezember” wurden nicht nur elf Frauen in Spanien ermordet, wegen der Gesetzesnivellierungen kommen manche Täter nun sogar mit geringeren Strafen davon als vorher. Zum Beispiel ein Mann aus Madrid, dessen Strafe wegen des Missbrauchs an seiner Stieftochter von ursprünglich acht auf sechs Jahre heruntergesetzt wurde.
“Die alarmierenden Zahlen zeigen, dass hier irgendwo Fehler gemacht wurden”, sagte Isabel Rodríguez, die Sprecherin der linken Podemos-Partei. “Das spanische System für Gewalt gegen Frauen ist zwar bahnbrechend, aber wir müssen genau schauen, ob und wo es Modernisierungsbedarf gibt.” Je nach Lesart sind für die Probleme handwerkliche Fehler des Ministeriums für Gleichberechtigung unter Führung von Irene Montero verantwortlich. Oder aber, wie von Montero und anderen Politikern angeführt, “Machismos” oder gleich “Faschos in Roben”, die Gesetzeslücken bewusst ausnutzten, um etwa Vergewaltiger milder zu bestrafen. Die Wahrheit liegt wahrscheinlich irgendwo in der Mitte.
Sicher ist auf jeden Fall: Gewalt gegen Frauen ist ein Thema, immer und überall. 49 Frauen wurden im vergangenen Jahr ermordet. Und obwohl Deutschland 2021 insgesamt 109 Frauen Opfer von Mord und Totschlag in Partnerschaften wurden, also auch auf die Einwohnerzahl hochgerechnet deutlich höhere Zahlen verzeichnete, ist die spanische Politik ungleich aktiver, um die Zahlen wieder einzudämmen. Nach den jüngsten Taten dürfen die Staatsanwälte des Landes künftig auch dann vorsorgliche Maßnahmen zum Schutz der Opfer häuslicher Gewalt beantragen, wenn keine Anzeige erstattet wurde, aber ausreichend Indizien für eine Gefährdung vorliegen.
“Staatliche Strategie” zur Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen
Von “Beziehungstaten” oder “Familiendramen” ist in Spanien jedenfalls schon lange keine Rede mehr: Gewalt gegen Frauen wird vielmehr als strukturelles, gesamtgesellschaftliches Problem gesehen. Geschlechtsspezifische Gewalt wird in dem Land etwa schon seit 2007 systematisch erfasst, aus mehr als 700.000 erfassten Polizeidokumenten ist daraus eine datengeschützte Risikobewertung namens VioGén entstanden. Auf Basis eines ausgefüllten Fragebogens und mithilfe eines Algorithmus bekommt jede Frau, die bei der Polizei Hilfe sucht, individuelle Empfehlungen, basierend auf der wahrscheinlichen Gefährdung – von einer einfachen Kontaktsperre bis hin zu dauerhaftem Polizeischutz. Gibt die Frau beispielsweise an, gewürgt worden zu sein, herrscht höchste Alarmstufe: Die gesammelten Daten legen nahe, dass diese Form von Gewalt in der Vergangenheit vergleichsweise häufig zu Morden oder Mordversuchen geführt hat.
Der Perspektivwechsel weg vom privaten hin zum gesellschaftlichen Problem ermöglicht auch einen konzentrierteren Umgang mit dem Thema: So stellt die Regierung etwa in diesem Jahr 320 Millionen Euro allein für die Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen zur Verfügung. Und eine “Staatliche Strategie” bis zum Jahr 2025 umfasst insgesamt 267 handfeste Maßnahmen, von der Prävention bis zur Wiedergutmachung für die Opfer.
Dass aber der Weg zu einem echten “Nur Ja heißt Ja” auch auf der iberischen Halbinsel noch lange nicht zu Ende gegangen ist, räumte auch Gleichstellungsministerin Montero in einer emotionalen Stellungnahme vor dem Parlament ein: “Das Gesetz braucht möglicherweise eine gewisse Zeit, um sich zu etablieren” und rufe in der Zwischenzeit “Probleme oder Schwierigkeiten bei seiner Anwendung hervor”, sagte die unter Beschuss geratene Politikerin. “Aber ich hoffe inständig, dass die mit der Reform des Strafgesetzbuchs eingeführte Änderung seine korrekte Auslegung erleichtert.” Die Zeit wird es zeigen.