Am 31. Dezember 2019 informierte China die WHO über eine Reihe ungewöhnlicher Fälle von Lungenentzündung – es war der Beginn der Corona-Pandemie
Vor fünf Jahren kamen erste Meldungen zu einem neuen Virus auf, das zunächst nur in der chinesischen Stadt Wuhan wütete. Was danach geschah, ist bekannt. Über Jahre hielt das Virus mit dem wissenschaftlichen Namen Sars-Cov2 die Welt in Atem. Mindestens 20 Millionen Menschen weltweit sollen aufgrund von Covid-Infektionen verstorben sein.
Am 27. Januar 2020 wurde die erste Ansteckung in Deutschland gemeldet. Am 8. März starb der erste Deutsche an den Folgen einer Infektion. Zwei Wochen später trat der erste Lockdown in Kraft. Erst im Mai 2023 erklärte die Weltgesundheitsorganisation den Gesundheitsnotstand wegen der Covid-19-Pandemie für aufgehoben. Was haben wir gelernt? Welche Fehler wurden gemacht? t-online fragte zwei Experten. Der Virologe Alexander Kekulé und der ehemalige Regierende Bürgermeister von Berlin, Michael Müller, blicken zurück.
Alexander Kekulé:
„In Deutschland hatten wir mehr Tote als vergleichbare Länder mit weniger restriktiven Maßnahmen, wie etwa Schweden oder die Schweiz. Die Corona-Maßnahmen haben die Wirtschaft mehr als anderswo geschwächt, das Land hoch verschuldet und die Gesellschaft gespalten.
Dass wir nicht noch mehr Tote hatten, lag zuallererst an der Vernunft der Bevölkerung und der Bereitschaft, wissenschaftlich begründete Maßnahmen mitzutragen. Zweitens hat unsere aktuelle, eigentlich sinnlose Überkapazität der Krankenhäuser die Auswirkungen der massiven Management-Fehler verringert. Und drittens konnte die Politik, im Gegensatz zu den meisten anderen Staaten, viele Probleme mit dem Geldbeutel lösen, statt gezielte und besser begründete Maßnahmen zu ergreifen.
Prof. Dr. Alexander Kekulé ist Facharzt für Virologie, Mikrobiologie und Infektionsepidemiologie und war Berater der Bundesregierung für Seuchenbekämpfung. Als Direktor des Instituts für Medizinische Mikrobiologie der Universität Halle ist er zum 30. September 2024 in den regulären Ruhestand gegangen. In der Pandemie wurde er durch seine Talkshow-Auftritte und seinen Podcast beim MDR bekannt.
Welche Maßnahmen waren vielleicht überzogen?
Da möchte ich mir, im Gegensatz zu einigen meiner prominenten Fachkollegen, noch kein Urteil erlauben. Es gibt aber viele Fragen, die wir rechtzeitig vor der nächsten Pandemie wissenschaftlich beantworten müssen. Zum Beispiel ist klar, dass Lockdowns und Schulschließungen die Infektionszahlen erheblich gedrückt haben. Wir wissen aber nicht genau, warum das so war und welche Einzelmaßnahmen man womöglich hätte weglassen können.
Die von mir entwickelte SMART-Strategie (Schutz der Risikogruppen, Masken, aerogene Übertragung vermeiden, reaktionsschnelle Nachverfolgung, Schnelltests) wurde zuletzt weltweit erfolgreich eingesetzt. Hätte man damit vielleicht von Anfang an auf Lockdowns verzichten können? Darauf gibt es bisher keine wissenschaftlich fundierte Antwort.
Auch viele andere Fragen sind ungeklärt. Zu Beginn der Pandemie haben das RKI und seine Berater ja noch gesagt, das neue Virus sei weniger gefährlich als die Grippe und käme nicht nach Europa. Wäre es vielleicht richtig gewesen, sich stattdessen erst einmal ein Bild der Lage zu machen und dafür zwei Wochen lang Großveranstaltungen abzusagen, zum Home-Office und freiwilligen Maskentragen aufzurufen, die Schulferien zu verlängern und unklare Atemwegsinfektionen auf Covid zu testen?
Diesen Vorschlag, den ich ja seinerzeit unter der Überschrift „Corona-Ferien“ gemacht habe, lehnt Christian Drosten in seinem aktuellen Buch ab, weil das seiner Meinung nach zu früh gewesen wäre. Andererseits gingen die Fachleute und Politiker während der ganzen Pandemie davon aus, dass man möglichst früh reagieren muss, um später nicht noch härtere Maßnahmen zu brauchen.
Einen ähnlichen Dissens gibt es auch bei der scheinbar simplen Frage, ob Kinder genauso ansteckend sind wie Erwachsene. Statt ihre bekannten Positionen noch einmal in Sachbüchern kundzutun, die ja keinen wissenschaftlichen Begutachtungsprozess durchlaufen, sollten sich die Fachleute aller Couleur jetzt endlich zusammensetzen und auf die wichtigen Fragen gemeinsame Antworten finden.
Hier habe ich mich geirrt
Ganz zu Anfang habe ich die Bedeutung der Kontaktinfektionen über- und die der aerogenen Infektionen unterschätzt. Aufgrund der Parallelen zum ersten SARS-Erreger von 2003 und der ersten Berichte aus Wuhan dachte ich damals auch, dass sich eine Infektion mit SARS-CoV-2 nicht nur als einfacher Schnupfen äußern kann. Praktischerweise hatte ich einen regelmäßigen Podcast beim MDR, sodass ich kleine und große Irrtümer immer zeitnah berichtigen konnte.
So richtig überrascht wurde ich in der Pandemie zweimal: Dass man so schnell einen Impfstoff entwickeln würde, hatte ich wirklich nicht erwartet. Die zweite Überraschung war leider, dass das Pandemievirus sich viel schneller veränderte und Varianten bildete, als ich das zu Anfang des Ausbruchs in Wuhan vorhergesagt hatte. In der Wissenschaft steigt die Zahl der erkannten Irrtümer ja proportional zum zeitlichen Abstand, mit dem man eine These nachprüft. Wenn Sie mich in einem Jahr nochmal fragen, dürfte die Liste meiner Fehler deshalb noch viel länger sein. Gelegentlich vom Fortschritt korrigiert zu werden, ist für einen Wissenschaftler allerdings genauso wichtig wie das Verlieren für einen Schachspieler. Auch wir lernen am meisten aus unseren eigenen Fehlern.“