Mit 88 Jahren kehrte Margot Friedländer nach Berlin zurück. Sie schrieb ihre Erinnerungen nieder, wurde vielfach geehrt – und blieb dabei immer eine bemerkenswerte Frau, frei von Zorn oder Bitterkeit über all das erlittene Unrecht.
Neulich war sie Ehrengast auf einem Fest in einem brandenburgischen Dorf. Margot Friedländer erzählte mit ihrer leisen, warmen Stimme geduldig, warum sie im stolzen Alter von 88 Jahren nach Berlin zurückgekommen war. Sie beantwortete Fragen, über die sie sich leicht amüsierte, wenn sie mit allzu viel Bewunderung in der Stimme gestellt worden waren. Sie fühlte sich wohl unter diesen freundlichen Menschen, auch wenn die stille Trauer in ihren Augen nie wich, die nicht dem Alter geschuldet war, sondern dem Leben.
Sie war eine kleine Frau mit einem großen Herzen und deshalb war sie auch ein bemerkenswerter Mensch. Man fühlte sich ein wenig beschämt in ihrer Gegenwart, weil sie frei war von Zorn und Bitterkeit über das erlittene Unrecht. Sie war einfach so, ihr Gemüt und ihr Charakter ließen nicht zu, dass Gift in sie eindrangen. Bewunderung war durchaus angebracht, wobei darin eben auch Verwunderung über ihre menschliche Stärke lag.
Margot Friedländer, Geburtsname Anni Margot Bendheim, Jahrgang 1921, lebte drei Leben. Das erste endete im Januar 1943, als ihr Bruder Ralph, 17 Jahre alt, verhaftet wurde und deportiert werden sollte. Die Mutter fasste den Entschluss, ihrem Sohn zu folgen und stellte sich freiwillig der Gestapo. Ihrer Tochter gab sie noch den Rat: Versuche, dein Leben zu machen. Beide, Mutter und Bruder, starben später in Auschwitz. Der Vater, der sich 1937 hatte scheiden lassen, war bereits 1942 dort getötet worden.
Als ihr erstes Leben endete, war Margot 21 Jahre alt. Alt genug, um mit vertanen Chancen zu hadern. Die Bemühungen um Ausreise waren gescheitert, vermutlich auch deshalb, weil Vater Arthur sich nicht konsequent darum gekümmert hatte. Einsam war Margot plötzlich, auf sich allein gestellt, darauf angewiesen, dass sie in Berlin großherzige Menschen fand, die ihr Bett und Brot gaben. Sie wollte ja, trotz alledem, ihr Leben machen.
Dann wurde sie, das war 1944, verraten. Nicht von den Gutherzigen, sondern von „Greifern“, also Juden, die von SA oder SS dazu gezwungen wurden, ihnen andere Juden auszuliefern. Der Verrat sollte den „Greifern“ und ihren Familien das Leben sichern. Eine Illusion, fast immer.
Margot Bendheim war 22, als sie ins Lager Theresienstadt deportiert wurde. Dort traf sie Adolf Friedländer wieder, den sie aus Berlin kannte, beide überlebten. Sie heirateten und damit begann ihr zweites Leben: in Queens, dem New Yorker Stadtteil, weit weg von Deutschland drüben in Amerika.
Das Ehepaar redete nie über die Vergangenheit, über die Ermordeten, Mutter und Vater und Geschwister. Was war da auch zu sagen? Um diese schreckliche, mörderische Vergangenheit hinter sich zu lassen, waren sie ja aus Deutschland weggegangen. In Queens lebten sie ein ruhiges, zurückgezogenes Leben. Margot Friedländer arbeitete in einer Änderungsschneiderei und als Reiseagentin, Adolf Friedländer für das Jüdische Kulturzentrum. Ihr Mann wurde am Ende seines Lebens blind; er starb im Jahr 1997 im Alter von 87 Jahren und liegt in Westchester, südlich von New York begraben.
Margot Friedländers drittes Leben begann eher zufällig. Vielleicht um sich nicht der Trauer zu überlassen, belegte sie einen Kurs im Jüdischen Kulturzentrum, in dem Menschen ihre Erinnerungen aufschreiben sollten. Meist schrieb sie nachts, wenn sie nicht schlafen konnte. Dann tauchte alles wieder auf, der Bruder, der sein Leben nicht leben durfte. Die Mutter, von der sie nur eine Bernsteinkette mit ihrem Konterfei im Medaillon besaß. SA, SS, die Deportationen, die 15 Monate in der Illegalität. Als sie das Erinnerte im Kulturzentrum vorlas, wurde es still. Sehr still.
Der Zufall fügte es, dass sie mit ihrer Geschichte einen deutschen Filmemacher auf sich aufmerksam machte, der in Brooklyn lebte. Er drehte einen Dokumentarfilm über Margot Friedländer, den er „Don’t call it Heimweh“ nannte. Nun wurde auch der Berliner Senat auf die Holocaustüberlebende drüben in Amerika aufmerksam und lud sie zur Vorführung des Films in ihre Geburtsstadt ein. Im Jahr 2003 kehrte sie zum ersten Mal nach fast 60 Jahren zurück. Ihr Mann hatte es immer abgelehnt, in die alte Heimat zu fahren: Deutschland sei zwar ein schönes Land, aber nur ohne die Deutschen!