Erst die Bahn, jetzt Flugsicherung und Nahverkehr: Die Streikwelle scheint ungebrochen. Eine Expertin erklärt, woran das liegt.
Keine Woche ohne Streiks und Proteste: Das Jahr ist noch jung, doch der Unmut vieler Menschen ist groß. Die Arbeitskämpfe aus dem vergangenen Jahr ziehen sich und neue Verhandlungen stehen bereits vor der Tür.
„2023 war das konfliktreichste Jahr seit 2010“, sagt Helena Bach, Tarifexpertin am arbeitgebernahen Institut der deutschen Wirtschaft (IW) in Köln. Wie sich das gerade angelaufene neue Jahr im Vergleich schlagen wird, ist noch unklar. In einer kürzlich veröffentlichten IW-Studie heißt es dazu: „Insgesamt lässt diese Gemengelage befürchten, dass das Konfliktniveau auch 2024 hoch bleibt.“ Die ersten Tage des Jahres versprechen schon einmal wenig Ruhe.
Denn während die Streiks der Lokführergewerkschaft GDL bei der Deutschen Bahn vorerst ruhen, machen die Luftsicherheitskräfte mit einem Warnstreik am Donnerstag weiter. Am Folgetag legen dann in vielen Städten Bus- und Straßenbahnfahrer die Arbeit nieder. Von den parallelen Tarifverhandlungen im ÖPNV sind laut Verdi mehr als 130 kommunale Unternehmen in rund 80 Städten und rund 40 Landkreisen mit insgesamt 90.000 Beschäftigten betroffen. Und es dürfte erst der Anfang sein.
Weitere Branchen könnten folgen
Denn erst am Dienstag folgten Tausende Ärzte an Unikliniken deutschlandweit dem Aufruf der Gewerkschaft Marburger Bund zur Arbeitsniederlegung. Nach Angaben der Gewerkschaft mussten sich Patienten teilweise auf längere Wartezeiten einstellen. Auch wurden nicht dringliche Operationen verschoben. Aufgerufen waren die mehr als 20.000 Ärzte an den bundesweit 23 landeseigenen Unikliniken. Noch ist hier keine Einigung im Tarifstreit erzielt.
Ebenfalls noch offen ist, wie es in den festgefahrenen Tarifkonflikten im Einzelhandel sowie im Groß- und Außenhandel weitergeht. Begleitet von zahlreichen Warnstreiks wird dort seit mehreren Monaten verhandelt – in einigen Tarifgebieten schon seit April 2023.
Auch im Lufthansa-Konzern sind Warnstreiks nicht ausgeschlossen. Die Kabinengewerkschaft Ufo hat die Gehaltsverhandlungen für rund 18.000 Flugbegleiter der Stammgesellschaft einseitig abgebrochen, wie Ufo am Mittwoch mitteilte. Kaum verhohlen drohte die Gewerkschaft mit Streik, wenngleich eine Entscheidung der Tarifkommission noch nicht gefallen sei.
Expertin: „Schwierige Gemengelage“
Doch weshalb kommt es in diesem Jahr zu so vielen Streiks? „Es ist eine schwierige Gemengelage, denn zum einen befinden wir uns weiterhin in einer Stagflation. Das heißt, das Wirtschaftswachstum stagniert und gleichzeitig herrscht noch eine verhältnismäßig hohe Inflation“, so Expertin Bach. „Gleichzeitig steigt nach Jahren sinkender oder stagnierender Reallöhne der Erwartungsdruck auf die Gewerkschaften.“
Gewerkschaften stellen dabei in Deutschland eine Hälfte der sogenannten Tarifpartner. Auf der anderen Seite stehen die Arbeitgeberverbände. Im gemeinsamen Austausch einigen sie sich auf die Lohn- und Arbeitsbedingungen. Der Staat darf dabei nicht intervenieren, weshalb von Tarifautonomie gesprochen wird. Oftmals reichen einige Verhandlungsrunden aus, um sich auf einen neuen Tarifvertrag zu einigen, der dann für eine bestimmte Laufzeit gilt.
Läuft diese Zeit ab, wird erneut verhandelt. Das ist in diesem Jahr für eine ganze Reihe an Branchen der Fall. Laut dem Tarifarchiv des Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Instituts (WSI) der Hans-Böckler-Stiftung in Düsseldorf laufen zwischen Dezember 2023 und Dezember 2024 für knapp zwölf Millionen Beschäftigte allein von den DGB-Gewerkschaften vereinbarte Vergütungstarifverträge aus.
Im Frühjahr enden etwa die Tarifverträge in der Druckindustrie (109.000 Beschäftigte), im Bauhauptgewerbe (731.000) und in der Leiharbeitsbranche (700.000). Im Juni laufen die aktuellen Tarifverträge der chemischen Industrie (585.000) und der Systemgastronomie (79.000) aus. Ab September 2024 starten die Tarifverhandlungen in der Metall- und Elektroindustrie, der größten Tarifbranche in Deutschland mit über 3,6 Millionen Beschäftigten. Ende 2024 laufen schließlich die Tarifverträge für den Öffentlichen Dienst bei Bund und Gemeinden (2,4 Millionen Beschäftigte) aus.