Sie fordern das Kalifat, vertreten eine strikte Geschlechtertrennung: Islamistische Gruppen erreichen viele Jugendliche. Experten warnen.

„Allahu Akbar“, „Gott ist groß“, ruft der Redner immer wieder ins Publikum, „Allahu Akbar“ schallt es aus der Menge zurück. Dazu reißen die hauptsächlich jungen Männer ihren rechten Arm in die Höhe. Frauen sieht man nicht in der Menge, die sich am vergangenen Samstag im Hamburger Stadtteil St. Georg versammelt hat. Die wenigen, die gekommen sind, stehen etwas abseits, von den Männern separiert.

„Muslim Interaktiv“ heißt die Gruppe, die zu dem Protest aufgerufen hatte. Der Hamburger Verfassungsschutz schätzt sie als gesichert extremistisch ein. Ein Blick auf die Schilder, die die Demo-Teilnehmer tragen, zeigt bereits, warum: „Kalifat ist die Lösung“ steht da etwa, und „Staatsräson tötet“ – gemeint ist das deutsche Selbstverständnis, für Israels Existenz einzutreten. Hinter der Forderung nach einem Kalifat verbirgt sich die nach einem islamischen Gottesstaat, was die Abschaffung der Demokratie zur Folge hätte. Zudem steht die Gruppe der islamistischen Bewegung „Hizb ut-Tahrir“ nah, die 2003 verboten wurde. Mehr dazu lesen Sie hier.

„Wie viel sollen wir Muslime eigentlich noch tolerieren?“

Wie groß diese Szene genau ist, das sei derzeit sehr schwer einzuschätzen, sagt Islamwissenschaftler Michael Kiefer von der Universität Osnabrück t-online. Die Demonstrationen an sich seien nicht so stark besucht. „Seit dem 7. Oktober aber sehen wir eine enorme Mobilisierung in Sozialen Medien“, sagt Kiefer. An dem Tag hatte die Hamas ein Massaker in Israel angerichtet, daraufhin begann der Krieg in Gaza. Die Gruppe falle nun, viel stärker als vergleichbare Gruppierungen, mit besonders professionellen Videoclips und Straßenaktionen auf, so Kiefer.

Auf von Jugendlichen stark genutzten Plattformen wie TikTok erfreuen sich die Kurzclips von „Muslim Interaktiv“ großer Beliebtheit. Sie werden teils mehr als 100.000-mal abgerufen, wie etwa das „Allahu Akbar“-Video von der Demonstration. In einem anderen besonders beliebten Video erklärt der Redner Joe Adade Boateng einen Botschafter der Vereinigten Arabischen Emiraten zum Verräter – weil der sich mit dem israelischen Präsidenten getroffen hatte. „Muslim Interaktiv“ zeigt sich zudem besonders reaktionär, wenn es um Frauen geht. Dass Saudi-Arabien in diesem Jahr zum ersten Mal eine Frau bei einem Schönheitswettbewerb teilnehmen ließ, kommentiert Boateng mit den Worten: „Saudi Arabien beschmutzt den Islam.“ Die nackten Schultern der Frau werden nur verpixelt gezeigt. „Wie viel sollen wir Muslime eigentlich noch tolerieren?“, fragt Boateng in die Kamera.

„Sie erreichen enorm viele Jugendliche“

All das aber scheint die jungen Menschen nicht abzuschrecken – im Gegenteil. „Das ist nicht neu“, sagt Kiefer. „Wir haben das schon beim ‚Islamischen Staat‘ gesehen, dass diese absoluten Botschaften wie ‚das Kalifat ist die Lösung‘ oder ‚der Islam ist die Lösung‘ bei jungen Menschen gut verfangen, die auf der Suche nach Sinnstiftung, Identität und Orientierung sind.“ Das kenne man nicht nur vom Islamismus, sondern auch vom Rechtsextremismus, so Kiefer.

Auch der Extremismusexperte Ahmad Mansour hält die Gruppe für eine große Gefahr. „Sie erreichen enorm viele Jugendliche, das ist extrem gefährlich“. Die Ereignisse im Nahen Osten seit dem 7. Oktober haben dabei als Brandbeschleuniger gewirkt: „Sie sprechen die Themen an, die die Jugendlichen emotional erreichen, und zwar dort, wo die Jugendlichen unterwegs sind – auf TikTok.“

„Das sollte ein Weckruf sein“

Und dort haben sie leichtes Spiel, sagt Mansour t-online. „Wir, die Demokraten, sind nicht da“, sagt er. „Wir überlassen den Radikalen komplett das Feld“. Dabei sei längst klar, dass die meisten jungen Menschen sich über soziale Medien informieren. „Ich verstehe nicht, warum man sieben Monate nach dem 7. Oktober noch immer kein Konzept hat, wie man den Menschen auf TikTok etwa eine differenzierte Sichtweise auf den Nahostkonflikt nahebringen könnte oder ein liberales Verständnis des Islam.“

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