Seit nahezu neun Wochen finden in Deutschland Grenzkontrollen statt. Je nach Lager werten die Politiker sie als Erfolg oder Fehler. Doch wie schätzt ein Experte die Lage ein?

In komplizierten Sachverhalten geben Zahlen Orientierung. Sie zeigen eindeutige Fakten auf und ermöglichen Vergleiche. So können Statistiken erstellt und Probleme wissenschaftlich ausgewertet werden. Doch manchmal reichen die Zahlen allein nicht aus. So wie bei den aktuell stattfindenden Grenzkontrollen.

Seit dem 16. September finden diese in ganz Deutschland statt, nachdem bereits zuvor an den Grenzen zu Polen, Tschechien, Österreich und der Schweiz kontrolliert wurde. In den ersten drei Wochen stellte die Bundespolizei bereits 13 Prozent weniger unerlaubte Einreisen fest. In sieben Wochen wurden 162 Schleuser festgenommen.

Es kommen also weniger Migranten nach Deutschland. Die Grenzkontrollen scheinen abzuschrecken, Schleuserkriminalität wird offenbar bekämpft. Doch es gibt unterschiedliche Interpretationen – je nach politischem Lager. Die Bundesregierung verkauft es als großen Erfolg. Doch ein Experte stellt der Regierung ein schlechtes Zeugnis aus: Langfristig würden die Kontrollen eher das Gegenteil bewirken.

Die SPD der verantwortlichen Innenministerin Nancy Faeser zieht erwartbar eine positive Bilanz. „Dass die Zahl unerlaubter Einreisen zurückgeht, ist eine gute Nachricht und zeigt, dass Bundesinnenministerin Faeser die richtigen Maßnahmen getroffen hat“, sagte SPD-Fraktionsvize Dirk Wiese dem „Tagesspiegel“.

Abseits der Parteilinien gibt es bislang weniger differenzierte Bewertungen zum Erfolg der Grenzkontrollen. Hans Vorländer, Migrationsexperte und Vorsitzender des Sachverständigenrates für Integration und Migration, erklärt im Gespräch mit t-online nun: „Dass es kurzfristig weniger Schleusungen gibt, war anzunehmen.“ Es sei aber wahrscheinlich, dass sich Schleuser nun andere Wege suchen.

(Quelle: Jürgen Heinrich/imago-images-bilder)

Prof. Dr. Hans Vorländer ist Politikwissenschaftler an der Universität Dresden. Er ist Vorsitzender des vom Innenministerium geförderten Sachverständigenrats für Integration und Migration. Darüber hinaus leitet er das Forum für Migration und Demokratie der Mercator-Stiftung.

Denn zur Wahrheit gehört auch, dass sich in der jüngeren Vergangenheit ohnehin deutlich weniger Menschen auf den Weg nach Europa gemacht haben. Nach Angaben der EU-Grenzschutzagentur Frontex sank die Zahl der unerlaubten Einreisen an den Außengrenzen der Europäischen Union in den ersten neun Monaten dieses Jahres um 42 Prozent auf rund 166.000 unerlaubte Grenzübertritte. Insbesondere über die zentrale Mittelmeerroute – die von Nordafrika nach Italien und Malta führt – kamen deutlich weniger Geflüchtete: ein Rückgang um 64 Prozent.

„Es ist schwieriger geworden, nach Mitteleuropa und Deutschland zu kommen“, stellt Vorländer fest. Dennoch gebe es bereits beobachtbare Ausweichbewegungen über Westafrika und die Kanarischen Inseln. Es könnte also sein, dass sich die Fluchtbewegungen mittelfristig nur verlagern.

Vorländer, der auch die Bundesregierung berät, hatte bereits vor ihrer Einführung vor den Kontrollen gewarnt. „Mit Aktionismus werden Erwartungen geweckt, an denen Politik gemessen wird. Hier sollten alle Beteiligten verbal abrüsten“, sagte er damals in einer Stellungnahme. Daran habe sich nichts geändert.

Ähnlich äußerte sich Clara Bünger von der Linken. Sie hatte jüngst neue Zahlen von der Bundesregierung erfragt. „Den politischen Wettstreit mit den Rechten, wer die Grenzen angeblich besser bewacht, wird sie nicht gewinnen“, sagte sie in Bezug auf Innenministerin Faeser.

Grenzdurchfahrt für Schengen-Bürger (Symbolbild): Der Schengen-Raum soll uneingeschränkten Personenverkehr in Europa gewährleisten. (Quelle: Uncredited/AP/dpa/dpa)

Der aktuelle Trend in Europa zu Grenzkontrollen sei gefährlich. Schließlich haben auch andere Staaten wie Dänemark, die Niederlande oder Polen entsprechende Maßnahmen umgesetzt. „Damit ist das Schengen-System im Grunde gefährdet“, warnt Vorländer. Die aktuelle Praxis dürfe sich nicht zu einem dauerhaften Zustand entwickeln. „Das Schengen-System und das in der Reform befindliche Asylsystem müssen in Balance gebracht werden. Daher sind die Grenzkontrollen nur ein vorübergehendes Mittel. Aber es darf kein dauerhaftes sein, weil es dem Schengen-Abkommen widerspricht.“

Grundsätzlich sei der rechtliche Rahmen nach wie vor kompliziert. So hinderte die Bundespolizei bis Ende Oktober 5.061 Menschen an der Einreise. „Pushbacks sind mit den europäischen asylrechtlichen Standards nicht zu vereinbaren. Umstritten ist, ob Grenzkontrollen immer asylrechtskonform verlaufen“, verdeutlicht Vorländer. Trotz der vermeintlich bestätigenden Zahlen warnt Vorländer daher: „Die langfristigen Nachteile sind womöglich größer als die kurzfristigen Vorteile.“

Am 16. September haben die Kontrollen an der Grenze zu Belgien, Frankreich, den Niederlanden, Luxemburg und Dänemark begonnen. (Archivfoto) (Quelle: Roberto Pfeil/dpa/dpa-bilder)
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