Im DFB-Kader fehlen einige prominente Namen. Julian Nagelsmann stellt das Leistungsprinzip in den Vordergrund. Das ist verständlich, aber riskant.
Alle 83 Millionen deutschen Bundestrainer kann Julian Nagelsmann nicht zufriedenstellen, aber er versucht es. Jahrelang krächzte die halbe Nation nach dem Leistungsprinzip, weil Nagelsmanns Vorgänger Joachim Löw und Hansi Flick immer wieder ihre Lieblinge nominierten und dafür Senkrechtstarter zu Hause ließen. So musste beispielsweise Pascal Groß, seit 2017 Leistungsträger beim Premier-League-Team Brighton, bis zum letzten Länderspiel von Hansi Flick im September 2023 warten, um für die deutsche Nationalmannschaft nominiert zu werden.
Julian Nagelsmann geht für seinen neuen DFB-Kader einen komplett anderen Weg. Er setzt radikal auf das Leistungsprinzip. Der 36-Jährige lässt für die Länderspiele Ende März gegen Frankreich (23. März) und die Niederlande (26. März) einige Stars daheim, die lange zu festen Größen zählten. Leon Goretzka vom FC Bayern zum Beispiel. Oder Niklas Süle von Borussia Dortmund. Beide spielen eine wechselhafte Saison, konnten nur selten über mehrere Spiele überzeugen. Die Konsequenz: Sie bleiben erst einmal zu Hause, weil andere aktuell einfach besser sind. Ein nicht zu überhörender Weckruf vor der Heim-EM.
Dass Nagelsmann seinen Kader im Vergleich zu seiner Nominierung vom vergangenen Herbst auf vielen Positionen verändert, ist verständlich. Gute Leistung sollte belohnt werden, gerade in der Nationalmannschaft. Gleichzeitig birgt dieser Weg kurz vor der EM auch ein gewisses Risiko. Dem muss sich Nagelsmann bewusst sein. Er setzt mit seiner Entscheidung alles auf eine Karte.
Das nächste Experiment
„Die Zeit der Experimente ist vorbei.“ Dieser Satz von Hansi Flick aus dem September 2022 entpuppte sich im Nachhinein als falsch. Sowohl während als auch nach der WM veränderte Flick mehrfach seine Herangehensweise, um irgendwie zum Erfolg zu finden. Es sollte ihm nicht gelingen.
Unter Flicks Nachfolger Julian Nagelsmann war die Zeit der Experimente ebenfalls noch nicht vorbei. Auch das Leistungsprinzip zählt dazu. Im Oktober 2023 setzte er mit der Rückkehr von Mats Hummels direkt ein Statement. Der neue Bundestrainer bezeichnete den Weltmeister von 2024 als „einen Spieler mit einer sehr großen Erfahrung“, der deshalb auch gut im Coaching unter den Spielern sei. „Ich verspreche mir, dass er im Training die Dinge, die ich sehen will, auch weitertragen kann“, erklärte Nagelsmann die Nominierung. Ein halbes Jahr später fehlt Hummels im DFB-Kader.
In den November-Länderspielen folgte ein weiteres Experiment: Kai Havertz spielte gegen die Türkei als linker offensiver Außenverteidiger. Der 24-Jährige, der es gewohnt ist, im offensiven Mittelfeld oder im Sturm zu spielen, fand sich plötzlich als Teil der Abwehrriege wieder. Für das Angriffsspiel war der Schachzug gut, für die Defensive aber ein Reinfall. Deutschland verlor das Prestigeduell in Berlin. Einen Monat später erklärte Nagelsmann das Projekt für beendet.
Nun folgt also das Experiment nach dem Leistungsprinzip. Der 36-Jährige setzt auf einen Block von vier Stuttgartern und drei Leverkusenern, Nagelsmann will den positiven Schwung und das Selbstvertrauen – oder wie es der Bundestrainer nannte, das „Momentum“ – der beiden Überraschungsteams der Bundesliga mitnehmen. Demgegenüber sind der BVB und Leipzig insgesamt mit nur drei Spielern vertreten. Zwei Teams, die momentan ihren Erwartungen eher hinterherlaufen.
Die Schattenseite von Nagelsmanns Herangehensweise
Dass Nagelsmann so konsequent gute Leistungen belohnt, bietet Kritikern aus der Vergangenheit wenig Angriffsfläche. Der Bundestrainer hat keine Lieblinge, die er bevorzugt. Spielern wie Niklas Süle oder Leon Goretzka, die er als Vereinstrainer mehrfach lobend hervorhob, sagte er ab.