Die Türkei steht im Viertelfinale der EM. Das Spiel findet an einem für eine Vielzahl der Fans besonderen Ort statt. Denn: Für sie ist er ein Zuhause.

Aus Leipzig berichtet William Laing

Es waren Szenen für Fußball-Romantiker, die sich am Dienstagabend kurz vor 23 Uhr im Stadion in Leipzig zutrugen. Plötzlich lagen sie kollektiv auf dem Rasen, die Spieler der türkischen Nationalmannschaft. Ihre Trikots vom Regen durchtränkt, genauso wie das Grün unter ihnen, auf das sie sich gerade erschöpft hatten fallen lassen. Auf den Rängen jubelten ihnen in diesen Sekunden die Fans frenetisch zu. Ihre Mitspieler und der Betreuerstab stürmten parallel aufs Feld und nahmen die Akteure in die Arme, während durch die Boxen der Arena der Song zu hören war, der aktuell immer nach Spielen der türkischen Elf durch die Arenen schallt und von den Anhängern dabei voller Inbrunst mitgesungen wird: „Memleketim“, auf Deutsch „Mein Heimatort“.

Nur wenige Augenblicke, bevor das Lied gespielt wurde und diese für den neutralen Beobachter auch so schon mitreißenden Bilder der türkischen Nationalmannschaft untermalte, hatte Schiedsrichter Artur Soares Dias ein denkwürdiges Fußballspiel in Leipzig abgepfiffen. An dessen Ende hatte die Türkei die favorisierte Mannschaft aus Österreich in einem Kraftakt mit 2:1 niedergerungen – und steht nun überraschend im Viertelfinale der Europameisterschaft 2024 in Deutschland.

Dort trifft die türkische Mannschaft am Samstag auf die Niederlande. Doch für viele Fans dürfte das Entscheidende überhaupt nicht sein, wer der kommende Gegner ihrer Elf ist. Von größerer Bedeutung ist sicherlich, an welchem Ort die Partie ausgetragen wird. Denn dieser bedeutet für nicht wenige türkische Fans „Memleketim“.

Fast drei Millionen Menschen mit türkischem Migrationshintergrund leben nämlich in Deutschland. Mehr als 200.000 davon nennen Berlin ihren Wohnort. Und genau dort, in der Hauptstadt der Bundesrepublik, wird das EM-Viertelfinale mit türkischer Beteiligung ausgetragen.

„Berlin ist für uns Heimspiel“, sagt Vural, ein türkischer Fan aus Köln im Gespräch mit t-online nach Abpfiff des Achtelfinales in Leipzig. „Ich denke, wir sind da in Berlin dann 500.000 Türken, die unsere Mannschaft mit begleiten“, so der 34-Jährige, der egal, ob die Zahl am Ende stimmt oder nicht, damit bereits einen Vorgeschmack auf das liefert, was auf die Millionenmetropole am Wochenende möglicherweise zukommen könnte.

Ein weiterer türkischer Anhänger, der wie Vural aus Köln kommt, formuliert es sogar noch drastischer als sein Landsmann – und dabei auch noch ein Stück emotionaler: „Berlin wird brennen. Da leben genug Deutsch-Türken“, sagt der 21-jährige Emre. „Die Stadt wird lahmgelegt für den Tag“, so seine Prognose, die auch der Türkei-Fan Sami aus Frankfurt am Main grundsätzlich teilt. „In Berlin wird’s wirklich abgehen“, betont er. „Da nehmen wir alles auseinander.“

Wie groß die Euphorie bei den türkischen und türkeistämmigen Fans ist, weil die eigene Mannschaft nun ausgerechnet in Berlin um das Halbfinale kämpfen wird, lässt sich aber auch noch an anderer Stelle festmachen. Rund eine halbe Stunde nach Abpfiff in Leipzig feiert eine Gruppe türkischer Fans im Arenaring, direkt hinter der Kurve, von der aus sie die Mannschaft gerade 90 Minuten lang nach vorn geschrien hatte. Den Schlachtgesang, den die Anhänger in diesem Moment anstimmen, kennt man in Deutschland bestens.

„Berlin, Berlin, wir fahren nach Berlin“ wird von den noch spürbar vom Spiel elektrisierten Fans im Einklang gegrölt. Eigentlich wird diese Parole nur dann skandiert, wenn sich Teams im DFB-Pokal in die nächste Runde des Wettbewerbs spielen und dem großen Ziel, dem Finale im Berliner Olympiastadion, damit ein Stückchen näher kommen. Auch das Endspiel der EM findet in der Heimspielstätte von Hertha BSC statt. Doch um „Wir fahren nach Berlin“ anzustimmen, braucht es aus türkischer Sicht offenbar noch kein Finale. Alles, was es braucht, ist die sicht- und hörbare Vorfreude auf ein Spiel in der Stadt, in der sich etliche von ihnen heimisch fühlen.

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