Im vergangenen Jahr ächzte das Essener Tierheim unter den Folgen von Corona und Inflation. Auch ein Jahr später ist die Lage noch immer angespannt.
Der Anruf kam im Frühjahr, bei strahlend blauem Himmel. Eigentlich klang die Meldung gar nicht so dramatisch. Der Hausmeister hatte angerufen und auf eine Wohnung in einem Mehrfamilienhaus aufmerksam gemacht. Dort rieche es streng, seiner Kenntnis nach lebten zwei Katzen in der Wohnung.
Das Team des Albert-Schweitzer-Tierheims rückte aus – und merkte schnell, dass es mit den mitgebrachten Transportboxen nicht weiterkam: Statt zweier Katzen lebten in der 55 Quadratmeter großen Wohnung 71 Katzen.
Am Ende musste die Feuerwehr anrücken, um Babykatzen selbst aus Rohren unter der Badewanne zu befreien. Tierheimleiterin Jeanette Gudd, erklärt im Gespräch mit t-online: „Das war sicher ein Ausnahmetag, aber Inobhutnahmen im zweistelligen Bereich sind keine Seltenheit mehr.“ Die verwilderten, verschreckten und kranken Tiere konnten teilweise von befreundeten Tierheimen aufgenommen werden.
Denn schon seit Längerem kämpft das Essener Tierheim mit Platzproblemen. Derzeit leben rund 110 Katzen und 60 Hunde in der Einrichtung in der Mitte von Essen. Ein mehrstöckiges Katzenhaus befindet sich noch im Bau und soll voraussichtlich im Sommer fertig werden.
Doch die Probleme liegen tiefer: „Normalerweise sinken die Bestände im Winter etwas, beispielsweise weil es weniger Fundkatzen gibt. In diesem Jahr hatten wir keine solche Verschnaufpause“, sagt Gudd.
Um den Tieren gerecht zu werden, sind es zu viele. Der Wandel hin zu einer Wegwerfgesellschaft, die Vereinsamung großer Teile der Bevölkerung und das Bröckeln von Gemeinschaft – das sind Veränderungen, die irgendwann auch im Tierheim ankommen.
„Die Tiere sind heute außerdem viel pflegeintensiver“, sagt Gudd. Früher habe man die Tiere entwurmt und entfloht und direkt vermitteln können. Heute müssten viele erst langwierig Infektionskrankheiten auskurieren und würden teilweise sechs Monate im Tierheim verbringen, bevor man sie vermitteln könne.
Herpes, Schnupfen, Pilz- oder Darmerkrankungen – je nachdem, welche Krankheiten die Tiere mitbringen, müssen sie voneinander separiert werden. Was noch mehr Platz kostet.
Auch Verhaltensstörungen sind, gerade bei den Hunden, an der Tagesordnung. Bellen, Knurren, Zähnefletschen oder aggressives Verhalten gegenüber Menschen und anderen Tieren zählen dazu.
„Die haben die Halter selbst versaut“, ärgert sich Gudd. Ein Husky oder Kangal gehöre einfach nicht in eine Dreiraumwohnung in der vierten Etage. „Da versuchen Leute, aus einer Leistungszucht einen Stadthund zu machen und holen sich Tiere ohne jegliches rassespezifisches Wissen“, sagt Gudd.
Wenn es nach ihr ginge, müsste jeder, der sich ein Tier anschafft, eine Sachkundeprüfung absolvieren – und sollte auch nach einem gewissen Zeitraum überprüft werden. „Um zum Beispiel die Bindung zwischen Tier und Halter zu sehen“, sagt sie.
Mittlerweile ist wieder gewährleistet, dass die Hunde jeden Tag einen Spaziergang machen können. Das war nicht immer so. „Wir haben tolle Ehrenamtliche“, sagt Gudd. Was man ohne die Ehrenamtlichen täte? „Zusammenbrechen“, sagt die Essenerin, ohne zu zögern.
Erdrückend sind für das Essener Tierheim auch die Tierarztkosten. „Wir haben keinen eigenen Tierarzt mehr und daher immense Kosten“, sagt Gudd. Dringend sucht das Albert-Schweizer Tierheim deshalb aktuell einen Tierarzt oder eine Tierärztin zur Festanstellung. Ständig würden Menschen im Tierheim anrufen und fragen, ob man für sie die Tierarztkosten übernehmen könne. „Kaum einer kann sich noch die Tierarztrechnungen leisten“, sagt sie.
Es sei schon vorgekommen, dass ein Tierarzt anrufe und sage: „Ich habe hier einen jungen Kater mit Harnverschluss. Der ist erst zwei Jahre alt und zum Einschläfern viel zu jung.“ Doch so eine Operation könne schnell vierstellig kosten. „Solche Tiere landen dann bei uns – und wir bekommen 95 Euro für die Vermittlung“, sagt Gudd.