Wie konnte es zum Terror von Solingen kommen? Und was muss nun politisch folgen? Ein Gespräch mit der Grünen-Innenpolitikerin und Islamwissenschaftlerin Lamya Kaddor.
Drei Tote, sechs Schwerverletzte: Das ist die verheerende Bilanz des Anschlags von Solingen. Nach der Messerattacke auf einem Stadtfest beginnt die Diskussion über die politischen Folgen. Wie hat sich der Täter radikalisiert? Hätte die Tat verhindert werden können? Und was sollte die Politik jetzt tun? Ein Gespräch mit der Grünen-Innenpolitikerin und Islamwissenschaftlerin Lamya Kaddor.
t-online: Frau Kaddor, was waren Ihre ersten Gedanken, als Sie von der Tat in Solingen hörten?
Lamya Kaddor: Ich war tief betroffen. Jeder kann sich vorstellen, was es bedeutet, auf ein Stadtfest zu gehen und plötzlich kommt jemand von hinten und sticht zu. Es ist grauenvoll. Ich fühle mit den Opfern und den Angehörigen der Toten.
Dringend tatverdächtig ist ein 26 Jahre alter Mann, ein sunnitischer Muslim, geboren im Osten Syriens, Ende 2022 als Flüchtling nach Deutschland gekommen. Er war offenbar bisher nicht als Extremist bekannt. Wissen die Behörden noch immer zu wenig über die Menschen, die zu uns kommen?
Zumindest muss man die Frage stellen, ob dieser Mann schon bei seiner Einreise islamistisches Gedankengut mitgebracht hat. Das müssen jetzt die Ermittlungen ergeben. Es gibt aber ein paar Dinge, die für mich auf eine Einzelradikalisierung hinweisen und gegen einen klassischen Schläfer sprechen, der im Ausland ausgebildet wurde und auf Kommando einen Anschlag verübt hat.
Lamya Kaddor ist Politikerin, Islamwissenschaftlerin, Religionspädagogin und Publizistin. Sie sitzt seit 2021 als Abgeordnete für die Grünen im Deutschen Bundestags und beschäftigt sich dort unter anderem mit Innenpolitik.
Welche Anhaltspunkte sind das?
Der Tatverlauf spricht nicht dafür, dass alles von langer Hand geplant war. Ein typischer Schläfer flüchtet eigentlich nicht ziellos vom Tatort, wirft das Messer weg, also das Beweismittel, und stellt sich dann nach 24 Stunden doch der Polizei.
Sie sind Islamwissenschaftlerin und haben als Lehrerin in Nordrhein-Westfalen auch mit Jugendlichen gearbeitet, die sich nach ihrer Schulzeit radikalisierten. Wie stark ist die islamistisch-dschihadistische Szene in Solingen?
In Nordrhein-Westfalen und darüber hinaus gibt es nach wie vor islamistische Netzwerke, die weiter sehr fleißig arbeiten und radikalisieren. Darauf weisen meine Partei und ich seit Jahren unermüdlich hin. Die Radikalisierung passiert nicht mehr so stark über die sogenannten Hinterhofmoscheen oder Gemeindezentren. Sondern im Privaten. Abseits der einschlägig bekannten radikalen Moscheegemeinden würde ich sogar sagen, dass inzwischen mehr Moscheegemeinden für die Gefahren des Islamismus sensibilisiert sind.
Was noch überhaupt nicht gut funktioniert, ist der Kampf gegen die sogenannte Turboradikalisierung. Die geht im Internet mit Telegram, TikTok und anderen Netzwerken schneller, als sich das viele auch nur ansatzweise vorstellen können.
Knapp zwei Jahre lebte der Tatverdächtige von Solingen in Deutschland.
Wir wissen noch nicht genug über den konkreten Fall. Aber sich in zwei Jahren online zu radikalisieren, ist problemlos möglich, das wissen wir aus anderen Fällen. Und zwar inklusive der nötigen Instruktionen, wie man möglichst viel Schaden anrichten kann. Heute kann man im Netz problemlos lernen, eine Bombe zu bauen. Die Bedeutung der Turboradikalisierung wird noch immer unterschätzt, auch in der Politik. Das müssen wir stärker ins Auge fassen.

Die Terrormiliz IS schreibt in der Nachricht, mit der sie die Tat für sich reklamiert, sie sei „Rache für Muslime in Palästina und anderswo“. Welche Rolle spielt der Nahostkonflikt für die islamistische Mobilisierung hierzulande?
Eine sehr große. Ich würde sagen, es ist derzeit das Hauptpropagandamittel des IS und vieler anderer islamistischer Gruppen. Bis vor Kurzem war es ja vor allem der Krieg in Syrien, der genutzt wurde, um Menschen für den sogenannten Dschihad zu mobilisieren. Das hat lange gut funktioniert. Jetzt hat der Krieg im Nahen Osten diese Funktion übernommen. Erneut, muss man sagen: Denn Nahost war vor dem Syrienkrieg schon der Konflikt, den Islamisten gerne genutzt haben: die „Befreiung Jerusalems“ oder die „Befreiung Palästinas“ ist in dieser Ideologie ein klassisches Motiv, mit dem sie sich gern auf den Islam berufen.