Nach fünf Jahren im Europaparlament reicht es ihm: Nico Semsrott steht nicht erneut zur Wahl. Im Interview verrät er, wie mächtig Politiker in Brüssel wirklich sind und wieso Hamburger im Juni trotzdem wählen sollten.
Vom Satiriker der „heute show“ zum Abgeordneten im Europaparlament: Sein humorvoller Umgang mit seiner Depression sowie Witze über die AfD machten Nico Semsrott bekannt. Der Einzug ins EU-Parlament für die Satire-Partei „Die Partei“ und seine politische Arbeit reflektiert er nun in seinem neuen Buch „Brüssel sehen und sterben“. Eine schonungslose Abrechnung mit Europas Politikzentrale.
Im Interview mit t-online spricht Nico Semsrott über Macht, Humor in der Politik sowie Hamburgs „Pimmelgate“ und gibt preis, was nach seiner Amtszeit passieren könnte.
t-online: Herr Semsrott, Sie sitzen im EU-Parlament. In drei Monaten ist Europawahl, warum ist das kein Thema bei uns?
Nico Semsrott: Die EU? Ein Thema? Natürlich nicht.
Wie kann man Menschen aus Hamburg für Europa begeistern?
Über Emotionen. Also das Gegenteil von dem, was die EU mit einem macht. Die EU macht mit einem nämlich erst einmal nichts.
Wieso sollte man trotzdem zur Wahl gehen?
Wählen ist megawichtig. Macht muss beschränkt werden. Deswegen bin ich dafür, eine starke Opposition zu wählen.
In Deutschland dürfen diesen Juni erstmals Menschen ab 16 Jahren das EU-Parlament wählen. Ein Lichtblick?
Schön, dass man jetzt auch ab 16 Jahren ernst genommen wird. Wenn jetzt noch die Jüngeren in der Mehrheit wären und nicht die Boomer – dann wäre es wirklich perfekt.
Die Hamburger SPD und Grünen haben im Jahr 2023 Parteimitglieder verloren – CDU und AfD haben einen Zuwachs verzeichnet. Muss man heute noch Parteimitglied sein, um sich politisch zu beteiligen?
Es ist immer wichtig, sich mit anderen Menschen zusammenzuschließen und zu organisieren. Man kann sich auch bei „Fridays for Future“, in der Gewerkschaft oder im Verein einbringen. Aber unser System legt fest, dass Parteien Macht demokratisch legitimieren und ausüben. Das halte ich für unmodern.
In den letzten Jahren haben wir eine Individualisierung erlebt, eine Vereinzelung. Darauf müsste das politische System reagieren. Ich wünsche mir mehr direktdemokratische Elemente. Doch warum sollten Parteien freiwillig Macht abgeben?
Mehr Direktdemokratie – ein Beispiel?
Die Hamburger und Hamburgerinnen haben sich entschieden, Wasser und Strom wieder staatlich zu machen. Olaf Scholz wollte eine Olympiabewerbung für Hamburg einreichen, das hat auch nicht geklappt. Bürgerinnen und Bürger haben mit Abstimmungen Politikerinnen und Politikern mit falschen Privatinteressen erfolgreich einen Riegel vorgeschoben.
In den beiden Beispielen haben Bürger gegen etwas gestimmt. Wie motiviert man Menschen für etwas?
Wenn man gegen etwas ist, ist man automatisch auch für etwas. Gegen Olympia zu sein, bedeutet, Geld für andere Projekte auszugeben. Direkte Beteiligung wird auf kleiner Ebene sehr oft erfolgreich gemacht.
Zum Beispiel, wenn einzelne Straßenzüge oder Plätze gestaltet werden sollen. Dann setzen sich Verbeamtete aus der Verwaltung und Kommunalpolitikerinnen und -politiker mit interessierten Bürgerinnen und Bürgern zusammen. Das finde ich gut. Leider gibt es das auf EU-Ebene nicht.
Hamburger können doch nach Brüssel reisen und ihre Abgeordneten treffen.
Das ist egal, solange das EU-Parlament keine Gesetze vorschlagen kann. Wenn ich als Bürger oder Bürgerin zu meinem oder meiner Abgeordneten ins Wahlkreisbüro gehe und sage „Bitte mach das für mich“ – dann müsste die Person eigentlich ehrlich sagen: „Sorry, kann ich nicht.“
(lacht) Nein. Die EU ist das beste demokratische Experiment, das es auf diesem Erdball gibt. Aber es reicht nicht.
Üblicherweise suchen Verbände und Unternehmen die Nähe zu EU-Politikern und -Politikerinnen. Ist es Ihnen auch so ergangen?
Ich war am Anfang meiner Amtszeit total verwirrt, als mich sofort die Hamburger Hafen Lager AG (HHLA, Anm. d. Red.) zu einem Lobbygespräch einlud. Ihren Sitz nennt man ja nicht umsonst „Rathaus der Speicherstadt“. Die Einladung war völlig seriös.