Neun Tote, ein aufgeschlitztes Zelt, viele Fragen
Das rätselhafte Sterben am „Berg des Todes“
05.06.2025 – 15:34 UhrLesedauer: 6 Min.
Im Winter 1959 stirbt eine Gruppe junger Wanderer unter mysteriösen Umständen im Ural. Ihr Zelt ist aufgeschlitzt, manche Körper entstellt, andere kaum bekleidet. Was ist passiert? Bis heute bleiben Fragen.
Der Ural, Februar 1959. Eisiger Wind fegt über die kahlen Hänge des Berges Cholat Sjachl – in der Sprache der indigenen Mansen: „Berg des Todes“. In dieser lebensfeindlichen Landschaft, auf 1.000 Metern Höhe, stößt ein Suchtrupp am 26. Februar auf ein verstörendes Bild: ein Zelt, halb eingeschneit, von innen aufgeschlitzt. Schuhe, Kleidung und Ausrüstung liegen ungeordnet verstreut im Schnee – doch von den jungen Wanderern, die hier eigentlich kampierten, fehlt jede Spur.
Erst Tage später tauchen sie auf. Oder besser: ihre Leichen. Zwei halbnackt unter einer Zeder, zwei weitere in seltsamen Posen in der Nähe, wieder andere mit gebrochenen Rippen, zerschmetterten Schädeln oder fehlender Zunge. Was ist diesen neun erfahrenen Wanderern in jener Nacht vom 1. auf den 2. Februar zugestoßen? Warum verließen sie panisch ihr Zelt – barfuß in Temperaturen von minus 30 Grad?
Bis heute gibt der „Fall Djatlow“ Rätsel auf. Offiziell wurde er 1959 mit der Formel beendet, eine „elementare Naturgewalt“ habe die Gruppe überrascht. Doch die bizarre Szenerie, widersprüchliche Berichte und jahrzehntelanges Schweigen der Behörden nährten zahllose Theorien: von Lawinen über geheime Waffentests bis hin zu Ufos. Was geschah wirklich auf dem „Berg des Todes“?

Neun junge Menschen, voller Abenteuerlust, voller Leben: Die Gruppe bestand aus acht Männern und Frauen, allesamt Studierende oder Absolventen des Polytechnischen Instituts in Swerdlowsk (heute Jekaterinburg), sowie einem erfahrenen Sportinstrukteur – Igor Djatlow. Der 23-Jährige war nicht nur Initiator der Expedition, sondern auch deren Anführer: Funkamateur, Bastler, Organisationstalent. Sein Name sollte sich für immer mit der Tragödie verbinden. Heute ist das Gebiet, in dem die Gruppe ums Leben kam, international als „Djatlow-Pass“ bekannt – benannt nach ihm.
Ihre Mission: eine rund 350 Kilometer lange Skitour durch die winterlichen Höhenzüge des nördlichen Urals. Das Ziel: die Besteigung des Berges Otorten. Sie wollten mit dieser Route das höchste Schwierigkeitslevel erreichen – es ging ihnen um eine sportliche Herausforderung. Alle Mitglieder galten als körperlich topfit, erfahren im Umgang mit extremer Kälte und vertraut mit den Gefahren der Wildnis.
In Briefen an Freunde und Familie klangen sie optimistisch, sogar fröhlich. „Das Leben ist schön, wir lieben euch“, schrieb eine der Frauen, Sinaida Kolmogorowa, noch kurz vor dem Verschwinden.

Mit dabei war ursprünglich auch ein Zehnter: Juri Judin. Wegen gesundheitlicher Probleme musste er die Tour nach wenigen Tagen abbrechen – ein Umstand, der ihm das Leben rettete. Jahrzehnte später sagte er: „Wenn ich die Antworten hätte, würde mein Herz ruhiger schlagen.“
Die sowjetischen Behörden reagierten zunächst zügig – doch das, was die Ermittler in den Akten festhielten, wirft bis heute mehr Fragen auf, als es beantwortet. Die Todesursache der meisten Opfer wurde zunächst allgemein mit „hypothermia“ – Erfrierung – angegeben. Doch bei genauerem Hinsehen stimmte das nicht für alle.
Ljudmila Dubinina, die Frau ohne Zunge, wies schwere innere Verletzungen auf, die laut Pathologen „der Wirkung eines Autounfalls“ ähnelten – ohne äußere Wunden. Auch bei zwei anderen Opfern wurden massive Thorax- und Schädeltraumata dokumentiert, ebenfalls ohne sichtbare Einwirkung von außen. Diese Art von Verletzung sei, so ein Gerichtsmediziner, „nicht von einem Menschen erzeugt worden, sondern durch eine hohe Druckkraft“.
Das Zelt selbst, das Verhalten der Gruppe – all das passte nicht zu einem Lawinenunglück, wie manche vermuteten. Die Neigung des Hangs war zu flach, keine Lawinenreste wurden gefunden, das Zelt war noch teilweise aufrecht. Zudem hätten die Wanderer bei einer Lawine kaum barfuß ins eisige Dunkel fliehen müssen.