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Auswandern nach Russland, weil da die Welt in Ordnung ist? Der Kreml kommt mit solcher Propaganda in Deutschland bei manchen Menschen mit russischem Hintergrund an, sagt ein Experte.

t-online-Recherchen zeigen, dass ein Netzwerk aus dem deutschsprachigen Raum Menschen aus dem Westen nach Russland lotsen will, angeführt von der Duma-Abgeordneten und Ex-Agentin Maria Butina. In russischen Quellen ist die Rede, Hunderttausende Unzufriedene wollten aus Europa und den USA auswandern. Doch was ist wirklich dran?

Das Phänomen gibt es, sagt Politikwissenschaftler Félix Krawatzek vom Zentrum für Osteuropa- und internationale Studien (ZOiS) in Berlin. Er und ein Kollege haben nach einer aufwendigen Umfrage die aktuellsten und umfangreichsten Daten zu Überzeugungen und Haltungen von Menschen, die aus dem Raum der Russischen Föderation nach Deutschland gekommen sind. Bei ihrer Forschung sind sie zu ihrer eigenen Überraschung darauf gestoßen, dass Auswandern ein verbreitetes Thema ist.

t-online: Aus Russland wird behauptet, Hunderttausende aus dem Westen wollten nach Russland auswandern. Ist das bei Menschen mit russischem Hintergrund in Deutschland ein Thema?

Félix Krawatzek: Ich habe kürzlich bei einer Konferenz dazu mit Kollegen gesprochen und sehe mich in der Wissenschaftscommunity bestätigt: Da braut sich etwas zusammen. Aber es kann niemand einschätzen, in welchem Umfang. Wir hatten den Aspekt auch so zunächst bei der Umfrage noch gar nicht auf dem Schirm. Wie sehr das Thema ist, haben wir zu unserer Überraschung in anschließenden Gesprächsrunden in Kleingruppen festgestellt. In acht Gesprächsrunden mit insgesamt 80 Teilnehmern gab es immer Teilnehmer, die das aufgebracht haben.

Da waren Leute, die nach Russland auswandern?

Es haben selten Personen gesagt, dass sie das jetzt selbst vorhaben. Aber immer wieder kam auf, dass im Bekanntenkreis Personen sind, die dies ernsthaft planen, mit der Botschaft deshalb in Kontakt stehen oder den Schritt schon gegangen sind. Das verdichtet sich auf jeden Fall, auch wenn ich bisher noch keine Zahlen darüber gelesen habe. Auf Unterschiede zwischen Russen und russlanddeutschen Spätaussiedlern sind wir dabei nicht gestoßen.

Félix Krawatzek. (Quelle: ZOiS)

Interviewpartner Félix Krawatzek hat im November die Studie „Mit Russlandhintergrund in Deutschland: Ansichten zu Politik, Gesellschaft und Geschichte“ veröffentlicht, die auf Basis einer Meinungsumfrage unter 500 Menschen mit Russlandhintergrund und einer Vergleichsgruppe aus der allgemeinen deutschen Bevölkerung entstand. Krawatzek leitet seit September 2018 den Forschungsschwerpunkt Jugend und generationeller Wandel am ZOiS und seit 2022 das vom Europäischen Forschungsrat finanzierte Projekt Moving Russia(ns): Intergenerational Transmission of Memories Abroad and at Home. Promoviert hat er am Department of Politics and International Relations der Universität Oxford. Als Gastdozent war er am Center for Russian and Eurasian Studies der Universität Harvard und der Universität Aarhus tätig.

In Ihrer Umfrage kam raus, dass die zweite Generation eine skeptischere Haltung gegenüber der Demokratie hat und sich deutlich weniger an Wahlen beteiligt. Sind das die, die gehen wollen?

Wahlbeteiligung ist nicht der beste Erklärungsansatz. Wenn man frustriert ist und kremlnahe Positionen und grundsätzlichen Wechsel in der deutschen Politik will, gibt es ja Parteien, die einen da abholen. Es sind eher die Älteren, die nach unseren Eindrücken Deutschland verlassen wollen, und da sehen wir eine Gemengelage aus Frustration mit gesellschaftlichen Entwicklungen in Deutschland.

Keine große Rolle für die Menschen spielen in unseren Daten Wirtschaftspolitik, sachpolitische und materielle Fragen. Im Vordergrund stehen ideelle Fragen. Vor allem Geschlechternormen, was hier eigentlich „das Normale“ ist und, wie wir miteinander umgehen. Diese Fragen haben eine stärkere emotionale Komponente, und hier liegt der Schlüssel.

Das polarisiert auch in der übrigen Bevölkerung.

Man sieht aber in unserer Umfrage bei der Bevölkerung mit russischem Hintergrund deutliche Unterschiede und eine viel größere Streuung bei den Antworten. Die Ablehnung dafür ist deutlich größer bei der Gruppe mit russischem Hintergrund als in der befragten Personengruppe mit Menschen ohne russischen Migrationshintergrund.

Sie haben dazu gefragt, ob Männer die Freiheit haben sollten, Kleider und Make-up zu tragen und ob Befragte eine Person im eigenen Haushalt aufnehmen würden, die sich weder als Mann noch als Frau identifiziert.

Unter den Jungen mit russischem Hintergrund gibt es mehr Toleranz als bei den Älteren aus der eigenen Gruppe und so viel wie unter den Älteren in der Bevölkerung ohne Russlandhintergrund. Vom Durchschnitt weichen bei den Menschen mit russischem Hintergrund mehr einzelne Einschätzungen stark ab, etwa anderthalbmal mehr. Das heißt, dieses Thema polarisiert deutlich stärker in der russischen Gemeinschaft in Deutschland. Wir haben auch häufiger gehört, dass es das bestimmende große politische Thema in Deutschland sei. Das ist eine Fixierung.

Weil diese Menschen es in Beiträgen aus Russland so gezeigt bekommen?

Wenn man sich die Kreml-Narrative anschaut, dann ist Europa tatsächlich eine endlose Gay Parade und die Menschen im Westen beschäftigt nichts anderes. Es ist aber schwierig, eine Kausalkette zu zeigen im Sinne von „Die konsumieren russische Staatsmedien und deswegen denken die so“. Da muss man vorsichtig sein. Klar ist, und das hat die Umfrage auch gezeigt, die Russen und Russlanddeutschen in Deutschland sind in Summe deutlich konservativer. Und in den russischen Medien gibt es noch einen anderen Aspekt.

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