Durfte ein genervter Politikwissenschaftler eine Erfolgsprämie für Hinweise zu einem Account ausloben? Nach mehreren Wochen wollen Münchner Staatsanwälte die Frage nicht selbst klären.
Der Streit über einen vermeintlichen Fahndungsaufruf von Johannes Varwick geht in eine neue Runde. Der Politikwissenschaftler und Professor der Universität Halle, der Verständnis für Positionen des Kremls anmahnt und dafür viel Gegenwind bekommt, wurde angezeigt. Er hatte nach Daten des X-Accounts einer Widersacherin gefragt und eine Erfolgsprämie ausgelobt. Jetzt will die bayerische Justiz diese Ermittlungen anderen Kollegen überlassen.
Die Staatsanwaltschaft München I hatte nach Varwicks Wüten gegen die pro-ukrainische Kritikerin ein Ermittlungsverfahren eingeleitet, wie t-online öffentlich gemacht hatte. Der Vorwurf ist, öffentlich zu Straftaten aufgerufen zu haben. Auslöser waren Varwicks Verständnis von Social Media und die Frage, ob eine „reale Person“ nur ist, wer im Netz mit seinem echten Namen schreibt.
Am 8. September hatte Varwick auf X von „Untiefen in Social Media“ und „Trollfarmen in etlichen Varianten und auf allen Seiten“ geschrieben. Beispielhaft sei „@LenaBerger“, ein Account, der „permanent unsachlich andere Auffassungen“ delegitimiere, „obsessiv auch mich“. Tatsächlich erhält Varwick von dem Account auch scharfen Widerspruch, oft polemisch. Belege für beleidigende Aussagen bleibt er jedoch schuldig – und @LenaBerger widerspricht ihm immer wieder auch fundiert.
Er zweifele, dass @LenaBerger eine reale Person sei, schrieb Varwick und bat um Hinweise: 500 Euro, wenn die Existenz von „Lena Berger“ als reale Person zweifelsfrei bewiesen werden könne, wolle er für einen guten Zweck spenden. Er legte später noch nach, Lena Berger könne „Intelligence Milieu mit staatlicher Beteiligung“ sein.
In der Folge wurde ihm vielfach vorgeworfen, Doxxing zu forcieren, die Preisgabe von persönlichen Daten gegen den Willen einer Person. Tausende Nutzer solidarisierten sich mit „Lena Berger“, darunter etwa FDP-Politiker Marcus Faber, Vorsitzender des Verteidigungsausschusses, oder CDU-Politiker Roderich Kiesewetter. Der Hashtag #IchbinLenaBerger trendete.
Zusätzlich ging bei der Staatsanwaltschaft München I eine Anzeige ein. Nicht von @LenaBerger selbst, wie der Account zunächst geschrieben hatte. t-online erklärte sie, sie habe ihre Anzeige nicht abgeschickt, um ihre Identität zu schützen – auch weil sie über eine andere Anzeige informiert worden sei und bei diesem Vorwurf für Ermittlungen ein Strafantrag der betroffenen Person keine Voraussetzung sei.
Der Würzburger Anwalt Chan-jo Jun hat inzwischen bestätigt, dass eine Frau mittleren Alters mit hervorragender Ausbildung über diesen Account twittert. Die Frau war bei ihm und belegte, wer sie ist und dass sie Zugriff hat. Damit lässt sich jedoch nicht ausschließen, dass auch andere Personen Zugriff haben könnten.
Das bezweifelt der Regensburger Valentin Spernath stark. Er ist es, der Varwick angezeigt hat. Spernath ist auch Vorsitzender des im April 2023 gegründeten Vereins Fellas for Europe, der laut Eigendarstellung mit Spenden, Hilfstransporten und dem Kampf gegen Falsch- und Desinformationen die Ukraine unterstützt. „Fellas“ sind Ukraine-Unterstützer im Netz, die mit dieser SElbstbezeichnung auftreten.
Er habe immer wieder Kontakt mit @LenaBerger gehabt, so Spernath. „Für mich bestehen keinerlei Zweifel, dass dahinter kein Gemeinschaftsaccount steckt, sondern eine reale Dame mittleren Alters aus Hamburg schreibt.“ Lena Berger heißt sie nicht, sondern nutzt zum Schutz das Pseudonym.
Mit dem Posting sei Varwick zu weit gegangen, „wenn man weiß, dass Ukraine-Unterstützer bedroht werden und gute Gründe haben, sich deshalb zu schützen“, erklärte Spernath t-online. Der Professor wolle offenbar „unangenehme Stimmen durch eine Einschüchterungskampagne zum Schweigen bringen“.
Varwick wies die Kritik lange mit dem Argument zurück, es gebe ja nicht einmal eine Anzeige. Deshalb war es für die Varwick-Kritiker ein kleiner Triumph, als die Staatsanwaltschaft bestätigte, dass gegen Varwick ein Verfahren eingeleitet wurde. Der Professor verbuchte es umgekehrt als Bestätigung seiner Theorien, dass die Kontrahentin gar nicht wirklich Lena Berger heißt.
Dann tat sich lange nichts. Die Staatsanwaltschaft München wollte keine Angaben machen. Jetzt aber hat sie nach Prüfung offenbar entschieden, nicht örtlich zuständig zu sein. Anzeigenerstatter Spernath bekam ein Schreiben, dass das Verfahren an die Staatsanwaltschaft Berlin abgegeben wurde. Dort hat Varwick offenbar seinen Wohnsitz.
Die Staatsanwaltschaft Berlin erklärte auf Anfrage, das Verfahren sei dort bislang nicht verzeichnet. Verschickt werden die Akten auf dem Postweg. Die Übernahme des Verfahrens wird von der Staatsanwaltschaft, an die abgegeben werden soll, geprüft und kann zunächst auch abgelehnt werden. Wie lange in diesem Fall die Prüfung dauere, lasse sich nicht sagen, sagte ein Sprecher. In Berlin geht es von vorne los.
In jedem Fall verzögert sich damit die Klärung weiter: Durfte der Professor in seinem Ärger über die Kritik dazu aufrufen, Hinweise zum Account zu geben? Er selbst hat auf eine Anfrage von t-online zunächst nicht reagiert.