Was muss die Politik nach Solingen tun? Und wie lässt sich der Terror künftig verhindern? Der SPD-Innenexperte Sebastian Hartmann warnt vor voreiligen Schlüssen – und erhöht den Druck auf Union und FDP.

Nach dem islamistischen Terroranschlag von Solingen mit drei Toten sitzt der Schock tief. Die politischen Parteien liefern sich einen Überbietungswettbewerb an Vorschlägen, doch längst nicht alles davon erscheint sinnvoll oder umsetzbar.

Am Dienstag empfing Kanzler Olaf Scholz (SPD) CDU-Chef Friedrich Merz, der zuvor unter anderem die Abschaffung des Asylrechts im Grundgesetz ins Spiel gebracht hatte. Ist Merz damit zu weit gegangen? Oder hat er eine notwendige Debatte angestoßen?

Der innenpolitische Sprecher der SPD-Bundestagsfraktion, Sebastian Hartmann, weist die Vorschläge des CDU-Chefs scharf zurück. Im Interview mit t-online fordert Hartmann pragmatische Lösungen statt „Parolen“ und „billiger Schlagzeilen“. Sonst drohe Merz und den Christdemokraten bald eine „brutale Entzauberung.“

t-online: Herr Hartmann, nach der Bluttat von Solingen wirkt die Politik wie aufgeschreckt. Täglich werden neue Forderungen gestellt, von denen viele vermutlich nie umgesetzt werden. Was sind Ihre Lehren aus dem Anschlag?

Sebastian Hartmann: Es war bekannt, dass Deutschland im Fadenkreuz des islamistischen Terrorismus steht. In Solingen hat sich auf grausame Weise gezeigt, welche Gefahr von radikalisierten Einzeltätern ausgeht. Wir müssen diese Gruppe noch stärker in den Fokus nehmen. Für eine abschließende Bewertung ist es aber noch zu früh, zuerst müssen wir diesen Anschlag bis ins letzte Detail aufklären. Wie konnte es zu einem derartigen Anschlag kommen? Haben Behörden versagt? Warum hatte die Polizei den Mann nicht im Blick? Jetzt darf kein Stein auf dem anderen bleiben.

SPD-Innenexperte Sebastian Hartmann: „Ich warne Herrn Merz vor Ablenkungsdebatten.“ (Quelle: Thomas Trutschel/getty-images-bilder)

Der mutmaßliche Attentäter Issa al-Hassan hätte gar nicht mehr in Deutschland sein dürfen. Immer wieder scheitern Abschiebungen, allein im ersten Halbjahr 2024 waren es nach aktuellen t-online-Recherchen 14.600. Warum bekommen die Behörden das Problem nicht in den Griff?

Abschiebungen sind Ländersache. In Fall von Solingen haben offenbar die zuständigen Behörden in Nordrhein-Westfalen bestehende Möglichkeiten nicht genutzt. Entgegen dem, was die Union jetzt behauptet, waren nicht die bestehenden Gesetze das Problem, sondern ihre Anwendung. Die Landesbehörden hätten Issa al-Hassan abschieben müssen, taten dies aber nicht, weil er offenbar nicht auffindbar war. Laut bisherigen Erkenntnissen soll es nur einen einmaligen Abschiebeversuch gegeben haben. Das ist fatal. Auch wenn der Ruf nach härteren Gesetzen manchmal verlockend klingt: Wir brauchen keine schärferen Gesetze, wenn die bestehenden noch nicht mal angewandt wurden.

Regierung und Opposition sind sich uneins, welche Lehren aus Solingen gezogen werden sollen: Die SPD will die Konsequenzen aus dem konkreten Fall ableiten, die Union fordert gleich einen Kurswechsel in der Asyl- und Migrationspolitik. Lässt sich die SPD auf die Diskussion ein?

Ich warne Herrn Merz vor Ablenkungsdebatten. Dass er jetzt die Abschaffung des Asylrechts fordert, täuscht doch nur darüber hinweg, dass Behörden vor Ort möglicherweise nicht alle Möglichkeiten genutzt haben. Es gibt ein Aufenthaltsrecht, das in diesem Fall offenbar nicht vollzogen wurde. Ein Geflüchteter ist ja nicht per se Islamist, sondern ein Flüchtling flieht in der Regel vor Islamisten. Daher müssen wir auch nicht das Asylrecht abschaffen. Die Länder sind für die polizeiliche Gefahrenabwehr zuständig. Warum ist dieser islamistische Gefährder nicht in den Blick genommen worden?



In Solingen hat sich auf grausame Weise gezeigt, welche Gefahr von radikalisierten Einzeltätern ausgeht.


SPD-Innenexperte Sebastian Hartmann


Aber ist es nicht legitim, angesichts dieser grausamen Tat auch grundsätzlichere Fragen zu stellen? Auch in der Bevölkerung setzt sich zunehmend der Eindruck durch, dass der Staat einen Teil seiner Kontrolle abgegeben hat, weil er gar nicht mehr weiß, wer alles nach Deutschland einreist.

Das, was die Union derzeit an angeblichen „Knallhart-Forderungen“ in den Raum stellt, hat entweder nichts mit dem Fall zu tun oder ist schlicht unrealistisch. Leider agiert Merz als reiner Oppositionsführer auf der Suche nach der billigen Schlagzeile. Ich fordere etwa seit Jahren, dass wir Straftäter auch nach Syrien und Afghanistan abschieben. Und ich bin der Erste, der für Gesetzesverschärfungen ist, wenn sie Sinn machen. Aber der Vorschlag des CDU-Chefs ist eine Nebelkerze: Er versucht davon abzulenken, dass die CDU-geführte Landesregierung in NRW möglicherweise in Solingen erheblich versagt hat. Hinzu kommt: Er hat doch sicher keine Mehrheit in der schwarz-grünen Landesregierung für diese Vorstöße.

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