Istanbul steht auf einer geologischen Zeitbombe – und Experten sind sich einig: Ein Mega-Erdbeben ist statistisch längst überfällig.
Am frühen Morgen des 6. Februar 2023 erschütterte ein schweres Erdbeben der Stärke 7,8 die Grenzregion zwischen der Türkei und Syrien. Nur Stunden später folgte ein zweites, fast ebenso starkes Beben. Die Nähe beider Epizentren und die außergewöhnliche Magnitude machten das Ereignis besonders verheerend. In beiden Ländern starben insgesamt über 62.000 Menschen, mehr als 125.000 wurden verletzt.
Das Beben ereignete sich an einem geologisch brisanten Punkt – dort, wo drei Erdplatten aufeinandertreffen: die Anatolische Platte, die Arabische Platte und die Afrikanische Platte.
Die Spannungen in diesem Gebiet entladen sich entlang zweier großer Verwerfungszonen: der Ostanatolischen Verwerfung, die sich quer durch die Türkei zieht, und der Totes-Meer-Transformationszone, die sich bis nach Afrika erstreckt.
Weiter westlich in der Türkei droht sogar ein noch schwereres Erdbeben. Ein sogenanntes Mega-Erdbeben könnte die Millionenmetropole Istanbul zerstören.
Istanbul liegt gefährlich nah an einer aktiven geologischen Bruchlinie. Die Nordanatolische Verwerfung zieht sich quer durch die Türkei bis ins Marmarameer. Sie trennt die eurasische von der anatolischen Platte – und dort verschieben sich die Platten kontinuierlich gegeneinander – mit wenigen Zentimetern pro Jahr. Diese stetige Bewegung reicht aus, um gewaltige Spannungen im Gestein aufzubauen.
Besonders auffällig ist ein Abschnitt der Verwerfung, der direkt unter dem Marmarameer liegt. Dieser Teil war über Jahrzehnte hinweg seismisch unauffällig – es wurden dort keine nennenswerten Erdbeben registriert. Genau das sehen Geowissenschaftler als Warnsignal.
Eine geologisch „verhakte“ Zone, in der sich Spannungen über lange Zeit unbemerkt aufstauen, ist besonders gefährlich. Aus der historischen Erdbebenchronologie ist zudem bekannt, dass sich in diesem Bereich bereits mehrfach schwere Beben ereignet haben.
Diese lange Phase ohne Beben bedeutet daher nicht Entwarnung – sondern im Gegenteil: Sie deutet darauf hin, dass sich unter der Erdoberfläche enorme Spannungen angesammelt haben, die sich jederzeit entladen könnten.

Diese können ein Erdbeben der Magnitude von mindestens 7 auslösen – Zerstörungen in besiedelten Gebieten würden dann eintreten. Bei Magnitude 8 oder gar neun drohen schwere Schäden und starke Zerstörungen. Das Problem für die 16 Millionen Einwohner: Die Metropole ist wegen der schwachen Bausubstanz der Gebäude schlecht vorbereitet, sagt Marco Bohnhof t-online, Wissenschaftler am Deutschen Geoforschungszentrum in Potsdam.
Zwar gebe es wegen der Gefahr vor Mega-Erdbeben strenge Bauvorschriften – an diese halte sich nur kaum jemand. „Ein Erdbeben ist überfällig. Statistisch passiert dort alle 250 Jahre eins. Das letzte große Erdbeben ereignete sich 1766“, so der Experte. Die konkrete Wahrscheinlichkeit für ein Mega-Beben in den kommenden Jahrzehnten betrage bis zu 80 Prozent. Das zeigten Daten verschiedener Modelle.
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Istanbul würde einem starken Erdbeben nicht standhalten
Dem stimmt der Erdbebenforscher Naci Görür zu, wie er der Deutschen Presse-Agentur erklärt. Es seien 100.000 Gebäude stark einsturzgefährdet, „es werden Hunderttausende umkommen“, warnt er. Rein rechnerisch könne es auch in die Millionenhöhe gehen. Weder die lokale Regierung Istanbuls noch die Zentralregierung oder die Bevölkerung seien sich der Gefahr wirklich bewusst, sagte Görür. „Maßnahmen zur Erdbebenresistenz der Städte in der Türkei sind nicht ausreichend.“
Viele Gebäude, die bei einem schweren Erdbeben einstürzen würden, seien bisher nicht aufgerüstet worden, warnte auch Sükrü Ersoy, Geologieprofessor von der Yildiz Technischen Universität. „Und angesichts der hohen Bevölkerungsdichte lassen sich Schäden auch bei entsprechender Planung nur schwer vermeiden.“ Der türkische Städtebauminister Murat Kurum sagte, Istanbul werde einem Erdbeben nicht standhalten. Insgesamt würden 1,5 Millionen Wohnungen und Gewerbeeinheiten als erdbebengefährdet gelten.