Im Kampf um die Fahrer-WM soll Oscar Piastri eigentlich seinen Teamkollegen unterstützen. Dabei zeigt er selbst aber alle Qualitäten eines Weltmeisters.

Es war die 20. Runde des Formel-1-Rennens in Aserbaidschan, als es Kommentatoren und Fans gleichermaßen von den Sitzen riss: McLaren-Pilot Oscar Piastri saugte sich auf der über zwei Kilometer langen Geraden des Stadtkurses in Baku im Windschatten an den führenden Charles Leclerc im Ferrari heran. Als die beiden Fahrer mit über 300 Kilometern pro Stunde auf die erste Kurve zurasten, sah es jedoch nicht danach auch, als könne Piastri nah genug für einen Überholversuch an Leclerc heranfahren.

Der junge Australier belehrte aber alle eines Besseren, ging mit einem äußerst späten Bremsmanöver volles Risiko und schob sich an dem Monegassen vorbei, der gar nicht mit einem Angriff gerechnet und deshalb auch zu keinem Verteidigungsmanöver angesetzt hatte.

Piastri übernahm die Führung und gab diese über die verbleibenden 31 Runden auch unter größtem Druck des hinter ihm liegenden Leclerc nicht wieder her. „Das war wahrscheinlich der stressigste Nachmittag meines Lebens“, kommentierte Piastri das Rennen nach der Zieldurchfahrt am Boxenfunk – auch wenn von Stress in seiner gewohnt monotonen Stimme keine Spur war. Es ist nicht das erste Mal, dass Piastri mit seinen spektakulären Überholmanövern und seiner Nervenstärke zu begeistern weiß. Es sind Qualitäten, die nur wenige Fahrer haben – die Qualitäten eines Weltmeisters.

Um die WM kämpft ein anderer

Um die Weltmeisterschaft kämpft bei McLaren aktuell jedoch eigentlich jemand anderes. Piastris Teamkollege Lando Norris befindet sich mit 63 Punkten Rückstand auf Titelverteidiger Max Verstappen aktuell auf Platz zwei in der Fahrerwertung, während Piastri mit weiteren 32 Punkten Rückstand nur auf Rang vier liegt.

Lando Norris: Er kämpft gegen Max Verstappen um die Weltmeisterschaft. (Quelle: FLORENT GOODEN/imago-images-bilder)

Ausgerechnet vor dem Rennwochenende in Aserbaidschan hatte McLaren nun verkündet, dass man künftig alles tun werde, um Norris im WM-Kampf zu unterstützen – und hatte Piastri damit effektiv zur teaminternen Nummer zwei degradiert, die nur dafür da ist, Norris zu unterstützen und entsprechend auch mal für ihn Platz zu machen.

Doch in Baku kam es anders: Norris hatte bereits im Qualifying am Samstag viel Pech, ging nur von Platz 17 ins Rennen. Piastri holte sich hingegen Startplatz zwei und einen Tag später den Sieg. Ein Nummer-zwei-Fahrer sieht anders aus.

Zumal Piastri in Baku ausgerechnet einige von den Qualitäten bewies, die Norris zuletzt vermissen ließ. Zu häufig verspielte Norris in den vergangenen Rennen gute Startpositionen, gewann weniger Rennen, als es ihm möglich gewesen wäre, und brachte sich damit im WM-Kampf um wichtige Punkte.

Schnell machte sich Kritik breit. Fans und Experten gleichermaßen stellten infrage, ob Norris die nötige Abgeklärtheit mitbringt, um auch unter dem Druck eines WM-Kampfes die Nerven zu behalten. Ganz anders Piastri, der in Baku dem Druck von Leclerc standhielt und den Sieg nervenstark nach Hause fuhr.

Ein weiterer Kritikpunkt an Norris: ein vermeintlicher Mangel an Killer-Instinkt. So rutschte er etwa beim Großen Preis von Ungarn durch eine bessere Boxenstrategie mehr oder weniger versehentlich an seinem Teamkollegen Piastri vorbei und hätte das Rennen gewinnen können. Doch kurz vor Schluss kam der Brite der Bitte seines Teams nach und ließ seinen Teamkollegen kampflos wieder vorbeiziehen, um ihm so seinen ersten Formel-1-Sieg zu ermöglichen.

Der Wechsel blieb nicht ohne Kontroverse. Norris hatte sich mit Blick auf den WM-Kampf zunächst geweigert, Piastri vorbeizulassen, gab nach wiederholten Aufforderungen des Teams jedoch nach. Die Kritik an McLaren dafür, nicht den im WM-Kampf besser gestellten Fahrer priorisiert zu haben, war groß. Gleichzeitig gab es aber auch Stirnrunzeln über Norris‘ Verhalten. Warum hatte er sich seinem Team nicht widersetzt? Hätten Weltmeister wie Max Verstappen und Lewis Hamilton anders gehandelt? Der Vorwurf, der im Raum stand: Norris sei „zu nett“, um tatsächlich um den Titel zu kämpfen. Wenn er sich nicht mal gegen sein eigenes Team durchsetzen könne, wie solle er dann gegen Verstappen bestehen, fragten sich viele.

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