Die Nationalmannschaft erfreut bei der EM ihre Fans. Das hat auch mit kleinen, aber feinfühligen Aktionen des Trainerteams zu tun.

Die Pfiffe waren unüberhörbar im Bremer Weserstadion. Als der Stadionsprecher bei Wiederanpfiff die Auswechslungen in der deutschen Mannschaft im Testspiel gegen die Ukraine verkündete, machte das Publikum seinem Ärger Luft. Niclas Füllkrug, IHR Angreifer Niclas Füllkrug, musste nach passablen 45 Minuten den Platz verlassen. Kai Havertz ersetzte ihn.

Die Entscheidung des damaligen Bundestrainers Hansi Flick stieß im Juni 2023 beim Bremer Publikum auf wenig Gegenliebe. Doch Flick war das egal. Kopfschütteln machte sich breit im weiten Rund der Arena. Und auch unter den Journalisten auf der Pressetribüne rumorte es. Man wollte schreien vor Unverständnis, irritiert und fassungslos, ob so wenig Fingerspitzengefühl Hansi Flicks.

Dass die Hereinnahme Havertz‘ sich ausbezahlt machte und der damalige Arsenal-Stürmer noch ein Tor und eine Vorlage lieferte, soll an dieser Stelle nicht verschwiegen werden. Und dennoch sagt die Entscheidung Flicks viel aus über den Zustand der Nationalmannschaft im Sommer des vorherigen Jahres – und die Evolution, die sie bis zum heutigen Tag durchschritten hat.

Flick war nicht bekannt als ein Meister der Kommunikation in seiner Rolle als Bundestrainer. Im Gegenteil. Und solch weiche Faktoren, wie etwa den Stürmer eines ansässigen Bundesliga-Klubs länger auf dem Platz zu lassen, waren für ihn zweitrangig. Dass Füllkrug in der darauffolgenden Partie in Warschau gegen Polen (0:1) erst in der 68. Minute eingewechselt wurde und somit dessen Chancen auf einen alleinigen, historischen DFB-Rekord drastisch geschmälert wurden, bekräftige diesen Eindruck nur. Füllkrug hätte der erste deutsche Nationalspieler werden können, der im sechsten aufeinanderfolgenden Länderspiel trifft. Gegen Polen ging er leer aus, Flick setzte auf Havertz im Angriff. Nur professionell, würden die einen sagen. Unsensibel und wenig feinfühlig die anderen.

Julian Nagelsmann zeigt aktuell jedenfalls, dass es auch anders geht – und sich sportlich relevante Entscheidungen mit dem nötigen Feingefühl für das Publikum vereinen lassen. Beim EM-Auftaktmatch in München gegen Schottland brachte der Cheftrainer in der 74. Minute Bayern-Profi Thomas Müller, in Stuttgart durften die VfB-Profis Chris Führich und Deniz Undav in der Schlussphase unter großem Jubel des Stuttgarter Publikums ihr EM-Debüt feiern. „Ich hatte Gänsehaut, als die Fans meinen Namen geschrien haben. Es ist ein überragendes Gefühl, wenn Fans dich so feiern und deinen Namen“, schwärmte der 27-Jährige noch zwei Tage nach dem Ungarn-Spiel. Für Nagelsmann waren es eminent wichtige Turnierspiele auf dem Weg ins EM-Finale. Flick coachte vor einem Jahr einen verhältnismäßig unwichtigen Testkick gegen die Ukraine.

Die Maßnahmen des Bundestrainers offenbaren, dass er einen wesentlichen Aspekt seiner Arbeit verstanden hat. Sportlich gute Leistungen sind das eine, die Fans und ihre Bedürfnisse im Blick zu haben das andere. „Gehen wir es an … alle zusammen“, schrieb er im Herbst 2023 auf Instagram. Ein halbes Jahr später betonte er auf einer Pressekonferenz: „Das Ergebnis ist am Ende schon auch immer entscheidend. Aber erst einmal geht es darum, dass wir so spielen, dass jeder Deutsche sich damit identifizieren kann und sagt, es macht mir Spaß, dieser Mannschaft zuzusehen.“

Aussagen, die auch bei den Fans gut ankamen. Nagelsmann und sein Trainerteam bedenken die vermeintlichen Nebenaspekte mit. Auch wenn er selbst vor dem Spiel gegen Ungarn offenbarte, nicht immer alles im Blick zu haben und zu wissen, „wer wo schon mal drei Minuten gespielt hat“.

Sein Trainerteam würde aber diese weichen Faktoren bei Einwechslungen, die nicht immer unbedingt taktischer Natur seien, berücksichtigen. „Am Ende wird immer Leistung belohnt. Und wenn wir ein Gimmick verteilen können, dann ist das durchaus im Bereich des Möglichen“, gab Nagelsmann zu. So würde es also nicht überraschen, wenn im weniger wichtigen dritten Gruppenspiel gegen die Schweiz in Frankfurt Robin Koch von der Eintracht die ersten EM-Minuten seiner Karriere erleben darf.

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