Die SPD ist keine Arbeiterpartei mehr – sagt Parteichef Lars Klingbeil. Wie dramatisch die Lage wirklich ist, haben jetzt zwei intime Kenner der SPD analysiert. Ihr Text ist, wie sie selbst schreiben, „ein Blick in den Abgrund“.
Man konnte das zuletzt häufig beobachten: Die SPD verliert eine Wahl, und hinterher beklagt das Führungspersonal, man habe sich von seiner Stammwählerschaft entfernt. Nach der historischen Niederlage der SPD bei der Europawahl im Juni 2024 (13,9 Prozent) war das so, auch bei der ebenfalls historischen Schlappe bei der Bundestagswahl im Februar (16,4 Prozent). Stets war es die „arbeitende Mitte“, wahlweise „die fleißigen Leute“, die zum Bedauern der Parteiführung ihr Kreuz nicht mehr bei der SPD machen wollten.
Parteichef Lars Klingbeil treibt schon länger die Frage um, warum die SPD bei Arbeitern so schlecht ankommt. Auch wenn er bisher kein Rezept gegen die Abkopplung der Partei von ihrer früheren Kernklientel gefunden hat – spricht er Klartext, um die Misere klar zu benennen: „Uns ist der Charakter als Partei der Arbeit abhandengekommen“, sagte Klingbeil soeben in einem Interview mit dem „RND“.
Den Niedergang der SPD als Arbeiterpartei haben auch zwei SPD-Insider in einer schonungslosen Analyse beschrieben. Der Titel: „Absturz mit Ansage“. Die Autoren der Studie sind keine Unbekannten, sie beobachten und analysieren die SPD seit Jahren: Gerd Mielke ist Honorarprofessor für Politik an der Uni Mainz, Fedor Rose führt die rheinland-pfälzische Staatskanzlei. Der Text, der zu Beginn der Koalitionsverhandlungen zwischen Union und SPD verfasst wurde, ist ein Beitrag für die Zeitschrift „Theorie und Praxis der sozialen Arbeiter“ und liegt t-online vor. Er wurde zuerst von „Table Media“ veröffentlicht.
Mielke und Rose räumen gleich zu Beginn mit einem Irrglauben auf: Noch immer sei in der SPD die Interpretation verbreitet, wonach Olaf Scholz‘ Wahlsieg im Jahr 2021 das „Resultat einer mitreißenden Wahlkampagne und der Ausstrahlung von Olaf Scholz“ gewesen sei. „Ganz offensichtlich ist dies bestenfalls die halbe Wahrheit“, schreiben sie.
Dass die SPD damals über 25 Prozent holen konnte, sei vielmehr ein „situativer Ausreißer“ gewesen. Hauptgrund: der „selbstzerstörerische Konflikt“ zwischen dem damaligen Unionskanzlerkandidaten Armin Laschet und CSU-Chef Markus Söder. Entsprechend sei die SPD bereits wenige Monate später zu den Umfragewerten der Krisenjahre 2019 und 2020 zurückgekehrt.
Die tieferen Ursachen der heutigen SPD-Krise verorten die Autoren in der Zeit zwischen 1998 und 2025. Der spektakuläre Wahlsieg Gerhard Schröders, der 16 Jahre CDU-Herrschaft beendete, habe zunächst „ein bevorstehendes sozialdemokratisches Jahrzehnt in Deutschland“ verheißen. Doch die Hoffnung zerschlug sich schnell, bald fuhr die SPD wieder Wahlniederlagen ein. Hier begann nach Einschätzung der Autoren der Bedeutungsverlust der Sozialdemokratie.
Vor allem der programmatische Schwenk der Schröder-SPD auf den „Dritten Weg“ und ihre Abkehr von den „kleinen Leuten“ hätten die Partei bis heute von ihren Stammwählern entfremdet, schreiben Mielke und Rose. Der „Dritte Weg“ beschreibt ein Modell der Sozialdemokratie, das auch liberale Elemente wie die Flexibilisierung von Beschäftigungsverhältnissen einbindet. Es wurde um die Jahrtausendwende zunächst vom damaligen britischen Premier und Labour-Chef Tony Blair popularisiert. Die „Schröder-Fraktion“ in der SPD habe den „Dritten Weg“ auch in Deutschland vollziehen wollen, die Kernprojekte waren die „Agenda 2010“ und „Hartz IV“-Reformen, so die Autoren.
Die Folge für die SPD: eine „Entfremdung weiter Teile der sozialdemokratischen Wählerschaft“. Mittlerweile – rund 20 Jahre nach dem Schröder-Schwenk – habe die Abkehr der unteren Einkommensschichten „dramatische Ausmaße“ angenommen“, wie Mielke und Rose schildern. In der Unterschicht und unteren Mittelschicht (definiert als Menschen mit niedrigem Bildungsabschluss) hätten bei der Bundestagswahl nur 20 Prozent für die SPD gestimmt. Bei den Arbeitern waren es nur 12 Prozent, bei den Arbeitslosen 13 Prozent. Zum Vergleich: 38 Prozent der Arbeiter und 34 Prozent der Arbeitslosen haben bei der AfD ihr Kreuz gemacht.
Das harsche Fazit der SPD-Kenner: Bei den „kleinen Leuten“ sei die SPD „keine relevante politische Bezugsgröße mehr“.