Bundesverfassungsgericht

Karlsruhe kippt harte Klinik-Pflicht zu Zwangsmaßnahmen

Aktualisiert am 26.11.2024 – 12:44 UhrLesedauer: 3 Min.

Der Erste Senat nahm die örtlichen Vorgaben für ärztliche Zwangsmaßnahmen unter die Lupe und sieht Änderungsbedarf. (Quelle: Uli Deck/dpa/dpa-bilder)

Spritzen setzen, Blut abnehmen, Medikamente verabreichen gegen den Willen der Betroffenen – das geht bisher ausschließlich im Krankenhaus. Das muss sich ändern, sagt das Bundesverfassungsgericht.

Das ausnahmslose Verbot von ärztlichen Zwangsmaßnahmen außerhalb von Krankenhäusern ist teils verfassungswidrig. Das hat das Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe entschieden. Die betroffene gesetzliche Regelung sei mit dem Grundrecht auf körperliche Unversehrtheit teils unvereinbar, sagte Gerichtspräsident Stephan Harbarth bei der Urteilsverkündung. (Az. 1 BvL 1/24)

Ärztliche Maßnahmen gegen den Willen von Patientinnen und Patienten dürften immer nur die Ultima Ratio sein – also das letzte Mittel, betonte der Erste Senat in Karlsruhe mehrfach. Das entsprechende Gesetz setzt bestimmte Vorgaben und sieht bisher vor, dass diese Maßnahmen nur „im Rahmen eines stationären Aufenthalts in einem Krankenhaus, in dem die gebotene medizinische Versorgung des Betreuten einschließlich einer erforderlichen Nachbehandlung sichergestellt ist“, durchgeführt werden dürfen.

Grundsätzlich sei die Bindung der ärztlichen Zwangsmaßnahme an einen stationären Aufenthalt im Krankenhaus zwar zulässig, urteilten die Karlsruher Richterinnen und Richter. Die ausnahmslose Vorgabe, dass diese ausschließlich im Krankenhaus erfolgen müssten, sei aber verfassungsrechtlich nicht gerechtfertigt. Den Gesetzgeber verpflichtete der Senat bis Ende 2026 zu einer Neuregelung. Bis dahin gilt das bisherige Recht weiter.

So ist der Krankenhausvorbehalt nach Ansicht des obersten Gerichts unverhältnismäßig, wenn bestimmte Voraussetzungen zusammentreffen. Die erste besteht darin, dass dem Betroffenen dadurch erhebliche Beeinträchtigungen der körperlichen Unversehrtheit drohen. Zudem müsse diese Beeinträchtigung in der Einrichtung, in der die Betroffenen untergebracht sind, vermieden oder zumindest signifikant reduziert werden können. Bedingung ist auch, dass der Standard der Einrichtung mit Blick auf die notwendige medizinische Versorgung nahezu einem Krankenhaus gleicht.

Im konkreten Fall hatte das Bundesverfassungsgericht die Situation einer Frau aus Nordrhein-Westfalen unter die Lupe genommen, die laut Bundesgerichtshof (BGH) unter anderem an paranoider Schizophrenie erkrankt ist. Sie wohne in einem Wohnverbund und werde regelmäßig in einem nahegelegenen Krankenhaus zwangsbehandelt.

Gerichtspräsident Harbarth verkündete das Urteil. (Quelle: Uli Deck/dpa/dpa-bilder)

2022 hatte ihr Betreuer den Angaben nach beantragt, der Frau ein Medikament auf der Station des Wohnverbundes zu verabreichen. Er argumentierte, in der Vergangenheit sei der Transport in die Klinik manchmal nur möglich gewesen, indem man die Patientin fixierte. Dies führe bei ihr regelmäßig zu einer Retraumatisierung. Gerichte lehnten den Antrag ab, so dass dieser Fall schließlich beim BGH landete.

Der BGH hatte das Thema dem Bundesverfassungsgericht vorgelegt, weil er die geltende Rechtslage für unvereinbar mit Artikel 2 des Grundgesetzes hielt. Aus diesem Artikel folge eine Schutzpflicht des Staates vor Beeinträchtigungen der körperlichen Unversehrtheit und der Gesundheit. Das Bundesverfassungsgericht folgte nun dieser Einschätzung.

Der Gesetzgeber hat dem Senat zufolge verschiedene Möglichkeiten, um den festgestellten Verfassungsverstoß zu beseitigen. Entweder er hebt die Pflicht eines stationären Krankenhausaufenthalts auf und ersetzt sie durch eine für alle Anwendungsfälle flexiblere Regelung oder er behält das Verbot von ärztlichen Zwangsmaßnahmen außerhalb von Krankenhäusern grundsätzlich bei und ergänzt es um eine Ausnahmeregelung.

Der Bundesverband Psychiatrie-Erfahrener zeigte sich nach dem Urteil bestürzt. Die Schutzpflicht des Staates gegenüber den Bürgern werde „auf perfide Weise ins Gegenteil verkehrt“. Verstöße gegen die UN-Behindertenrechtskonvention seien vorprogrammiert. Der Verband kündigte an, gegebenenfalls Fälle ambulanter Zwangsbehandlung vor das UN-Komitee für die Behindertenrechtskonvention in Genf zu bringen.

„Wir sind nicht angetan vom heutigen Urteil, weil es ein Misstrauen in das Patienten-Therapeuten-Verhältnis hineinbringt“, erklärte nach der Verhandlung Rüdiger Hannig von der Bundesarbeitsgemeinschaft Selbsthilfe. „Der hohe Schutzzaun der Klinik“ werde eingerissen. „Andererseits sehen wir, dass die Möglichkeit sehr klein gehalten ist. Es hängt vom Gesetzgeber ab, wie es jetzt formuliert wird.“

Andrea Gerlach, die Leiterin des Wohnverbundes, in der die Frau aus dem konkreten Fall untergebracht ist, begrüßte wiederum die Entscheidung des Senats. Für die Patientin würde eine neue Regelung weniger Leid bedeuten, sagte Gerlach. Denn bisher müsste sie unter „extrem hohem“ Zwang in die Klinik gefahren werden. Eine neue Lösung könnte diesen Zwang für die Patientin vermindern.

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