Erst spät bezieht der Kanzler Stellung zu der historischen Wahlniederlage seiner Partei. Was er zu sagen hat, dürfte die meisten Zuhörer erstaunen.

Die Europawahl ist für die Ampelparteien zu einem regelrechten Debakel geworden. Insbesondere die SPD musste herbe Verluste hinnehmen, aber auch Grüne und FDP büßten stark an Zustimmung ein. Am Tag nach der Wahlschlappe rumort es in den Parteizentralen. Die Spitzen kamen zusammen, um über das Ergebnis zu beraten – und über mögliche personelle Konsequenzen.

Kanzler Olaf Scholz äußerte sich erst am Montagabend zu dem Abschneiden seiner Partei. Scholz hatte am Tag nach dem Urnengang noch einen Staatsbesuch auf dem Programm, er empfing Chiles Präsidenten Gabriel Boric in Berlin. Bei der Gelegenheit beantwortete der Sozialdemokrat dann die Fragen von Journalisten. „Das Wahlergebnis war für alle drei Regierungsparteien schlecht“, sagte er.

„Keiner ist gut beraten, der jetzt einfach zur Tagesordnung übergehen will“, so Scholz. „Gleichzeitig geht es aber auch darum, dass wir unsere Arbeit machen, dafür zu sorgen, dass unser Land modern wird, dass es vorankommt.“

Die Frage, welche Verantwortung er selbst für die Wahlniederlage trägt, beantwortete Scholz nicht. Mit 13,9 Prozent hatte seine SPD das schlechteste Ergebnis eingefahren, seit sie 1891 erstmals unter diesem Namen bei einer gesamtstaatlichen Wahl antrat. Im Wahlkampf hatte sich der Kanzler bewusst in die erste Reihe gestellt, ließ sich an der Seite von Spitzenkandidatin Katarina Barley plakatieren und trat auf mehreren Großveranstaltungen als Zugpferd auf.

In der SPD wächst deshalb die Unzufriedenheit, insbesondere mit dem Kanzler. Der hatte zu Beginn seiner Amtszeit explizit „Führung“ versprochen. Inzwischen wird jedoch offen Kritik am Führungsstil von Scholz vorgetragen. Die Wahl sei auch eine Abstimmung über die Ampel und ihren Kanzler gewesen, „den wir überall plakatiert haben“, sagte Juso-Chef Philipp Türmer dem „Spiegel“. „Hätten wir die Wahl gewonnen, wäre es als Bestätigung der Ampel und Stärkung des Kanzlers gewertet worden. Nun haben wir sie verloren. Also gilt das Gegenteil“.

  • Lesen Sie hier einen Bericht über den Tag danach bei den Grünen

Noch am Wahlabend wurden SPD-Politiker wieder gefragt, ob nicht der populäre Verteidigungsminister Boris Pistorius die bessere Führungsfigur der Sozialdemokraten wäre als der in Umfragen unbeliebte Kanzler Scholz – auch wenn dies von der Parteispitze umgehend als unsinnig abgetan wurde.

Es war Pistorius, der sich zu den Forderungen aus der Union nach einer Neuwahl des Bundestags unmissverständlich äußerte. „Warum sollten wir neu wählen?“, fragte er am Montagabend bei einer Ehrung des früheren bayerischen Ministerpräsidenten Edmund Stoiber in Berlin. „Die Bundestagswahl war 2021 und die nächste wird [20]25 sein. Nur weil man zwischendurch andere Wahlen verliert, verliert man nicht die Legitimation“, so Pistorius. In Umfragen landet der Verteidigungsminister regelmäßig weit vor dem Kanzler in der Wählergunst.

Verteidigungsministerin Boris Pistorius (SPD) und Außenministerin Annalena Baerbock (Grüne) in Berlin (Archivbild). (Quelle: Maryam Majd/Getty Images)

Die Rufe nach einem politischen Neuanfang wurden im Laufe des Montags jedenfalls immer lauter. CDU-Chef Friedrich Merz sagte im „Brennpunkt“ der ARD, das Wahlergebnis sei „ganz brutal gegen die Koalition, gegen die Ampel. Diese Ampel, SPD, Grüne und FDP, hat in keinem Teil Deutschlands mehr eine Mehrheit für ihre Politik, nirgendwo mehr. Im Osten nicht, im Süden nicht, im Norden nicht, im Westen nicht.“ Er warnte die Bundesregierung davor, die Spaltung des Landes nicht weiter voranzutreiben.

Doch während etwa Frankreichs Präsident Emmanuel Macron schon unmittelbar nach den ersten Hochrechnungen am Sonntagabend Neuwahlen angekündigt hatte, nachdem sein Parteienbündnis ebenfalls von den Wählern abgestraft worden war, will man in Berlin von einem solchen Schritt nichts wissen. Die SPD-Spitze um Parteichefin Saskia Esken erteilte entsprechenden Forderungen eine klare Absage. Man wolle nun noch härter kämpfen, kündigte Co-Parteichef Lars Klingbeil an.

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