Der Antisemitismus in Deutschland ist stark – nicht erst, seit Israel Krieg gegen die Terroristen der Hamas führt. Wer hat versagt, wie lässt sich der Judenhass bekämpfen? Der Historiker Michael Wolffsohn gibt Antworten.

Vor knapp 80 Jahren befreiten Soldaten der Roten Armee die Überlebenden von Auschwitz. „Nie wieder“ Antisemitismus, verhieß die Bundesrepublik Deutschland später den jüdischen Menschen, die hier leben. Doch die Wirklichkeit sieht anders aus: Bei Protesten in unserer Gegenwart wird Israel und dem Judentum der Tod gewünscht, Juden leben in Angst. Michael Wolffsohn, deutsch-jüdischer Historiker, warnt seit langer Zeit vor dem Erstarken des Antisemitismus.

Warum droht Juden weit über den Rechtsextremismus hinaus Gefahr? Weshalb sieht Wolffsohn Israels Existenz ernsthaft bedroht? Wie ließe sich eine Friedensregelung für Gaza finden? Diese Fragen beantwortet der Historiker im Gespräch. Und erklärt, wie der Judenhass effektiver bekämpft werden könnte.

t-online: Professor Wolffsohn, am 27. Januar 1945 befreite die die Rote Armee Auschwitz, „Nie wieder!“ bildet ein Grundbekenntnis der Bundesrepublik Deutschland. Trotzdem leben heute Juden hierzulande in Angst vor antisemitischer Gewalt. Wie konnte es dazu kommen?

Michael Wolffsohn: Die Worte „Nie wieder!“ klingen ganz wunderbar, in der Praxis erweisen sie sich allerdings als genau das: Worte. Statt „Nieder wieder!“ erleben wir in unserer Gegenwart ein „Schon wieder!“ des Antisemitismus. Die Parolen „Tod den Juden!“ und „Tod Israel!“ erklingen auf den Straßen, in Berlin und anderswo. Besonders seit dem Terrorakt der Hamas vom 7. Oktober 2023 gegen Israel. Nur sind es heute nicht braune Horden, die ihren Hass herausbrüllen, sondern muslimische Neudeutsche. Schon wieder ein so virulenter Antisemitismus in Deutschland? Das übertrifft meine schlimmsten Erwartungen.

Haben Politik und Gesellschaft es sich zu einfach gemacht? Antisemitismus galt lange Zeit in der öffentlichen Debatte als nahezu ausschließlich rechtsextremes Gedankengut.

Das ist ein vollkommenes Versagen, ja. Der Antisemitismus ist im Prinzip eine seit 3.000 Jahren herrschende Pandemie, Juden werden angefeindet, seit es sie gibt. Und das beschränkt sich eben nicht allein auf Rechtsextreme. „Antisemitismus hat in Deutschland keinen Platz“, heißt es immer wieder. Aber dabei haben alle versagt: Politik und Gesellschaft, Wissenschaft und Medien.

Worin besteht der grundlegende Fehler Ihrer Ansicht nach?

Linksextremismus und Islamismus bilden neben dem Rechtsextremismus die zwei anderen Hauptquellen für den Antisemitismus. Diese Gefahr wurde sträflich ignoriert, willentlich und wissentlich. Nun ist das Problem gewaltig.

Zur Person

Michael Wolffsohn, 1947 in Tel Aviv geboren, lehrte bis zu seiner Emeritierung 2012 Neuere Geschichte an der Universität der Bundeswehr München. Heute ist der Autor zahlreicher Bücher publizistisch und als Vortragsredner tätig. Wolffsohn hat im Laufe der Zeit verschiedene Ehrungen und Preise erhalten, so kürte ihn der Deutsche Hochschulverband 2017 zum Hochschullehrer des Jahres. 2023 veröffentlichte Wolffsohn sein Werk „Eine andere Jüdische Weltgeschichte„, am 27.01.2024 erscheint mit „Nie wieder? Schon wieder! Alter und neuer Antisemitismus“ das neue Buch des Historikers.

Wie erklärt sich der linksextreme Antisemitismus?

Bereits der Urvater der Linken, der im Alter von sechs Jahren getaufte Herkunftsjude Karl Marx, hat den linken Antisemitismus ideologisch salonfähig gemacht. Auch die sogenannte Neue Linke in Westdeutschland war seit ihren Anfängen in den Sechzigerjahren erkennbar antisemitisch. Ein Beispiel ist der Linksextremist Dieter Kunzelmann, der 1969 am Jahrestag der Novemberpogrome von 1938 einen Anschlag auf die jüdische Gemeinde in West-Berlin geplant hatte. Kunzelmann glaubte, ein „Zeichen“ gegen den „Juden-Knax“ setzen zu müssen.

Kunzelmann wollte Juden in Deutschland umbringen, um das Land von seinem angeblichen „Judenfimmel“ zu „kurieren“?

So ist es. Seit Kunzelmanns gescheitertem Anschlag stehen jüdische und israelische Institutionen und Einrichtungen wie auch manche Persönlichkeiten unter Polizeischutz. Das wird oft vergessen, angesichts der Fokussierung der öffentlichen Wahrnehmung auf den Antisemitismus von rechts, der ja leider ebenfalls wieder militant wird. Juden sind für Rechts- und Linksextreme gleichermaßen angebliche Beherrscher der Finanzwelt, als solche wären sie Förderer des Kolonialismus und Unterdrücker der Dritten Welt, die im Zustand der Entrechtung existieren müsse.

Die Feindschaft dieser Antisemiten gilt aber insbesondere Israel?

Israel – beziehungsweise der Zionismus – gilt diesen Antisemiten als Speerspitze des kapitalistisch-weißen Kolonialismus. Der Holocaust wäre demnach eine innerweiße Angelegenheit gewesen, alles, was Israel nun den Palästinensern antue, wäre deshalb noch viel schlimmer als der Holocaust. Wer also Israel anfeindet und bekämpft, kann sich in dieser verdrehten Weltsicht als Kämpfer der Unterdrückten und Entrechteten ansehen. Postkolonialismus nennt sich das heute, auch bei Linksliberalen ist er sehr beliebt.

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