Der Zweite Weltkrieg begann 1939, Adolf Hitler war eine Art Mastermind, der den Konflikt zielstrebig herbeiführte – so lauten verbreitete Ansichten. Historiker Richard Overy widerspricht.

Russland bekriegt die Ukraine und fordert die westlichen Staaten heraus, im Nahen Osten führt Israel Krieg gegen die terroristische Hamas. Der Konflikt könnte sich ausweiten. Wie vor dem Ausbruch des Zweiten Weltkrieges eskalieren Krisen und überlagern sich. Richard Overy ist Experte für die Geschichte des Zweiten Weltkriegs, gerade hat er mit „Weltenbrand. Der große imperiale Krieg 1931–1945“ ein Buch zu diesem globalen Konflikt auf Deutsch veröffentlicht. Im Gespräch erklärt der britische Historiker, welche Lehren aus der Vergangenheit Gültigkeit haben, wieso Adolf Hitler alles andere als ein Genie gewesen ist und welche Rolle der Imperialismus beim Ausbruch des Zweiten Weltkriegs spielte.

t-online: Professor Overy, Sie sind einer der besten Kenner der Geschichte des Zweiten Weltkriegs. Hätten wir angesichts der russischen Aggression gegen die Ukraine die Lehren der Vergangenheit besser beachten sollen?

Richard Overy: Wir erleben gegenwärtig eine scharfe ideologische Konfrontation zwischen den westlich geprägten Staaten und autoritären Mächten. Staaten wie Russland, China und Iran ignorieren Menschenrechte und die derzeitige globale Ordnung, davor haben sie keinerlei Respekt. Dieser Zustand ist eine Parallele zu den Dreißigerjahren, als Deutschland, Italien und Japan die damals bestehende Ordnung attackierten. Dass autoritäre Mächte Kriege zur Erzwingung ihrer Ziele führen, ist wiederum eine Tatsache, die in unserer Gegenwart Bestand hat. Wenn diese Lehre beherzigt worden wäre, hätte uns Wladimir Putin nicht derart überraschen können.

Wie stehen die Aussichten, dass die seit Ende des Zweiten Weltkriegs etablierte liberale Weltordnung amerikanischer Prägung Bestand haben wird?

Deutschland, Italien und Japan einte in den Dreißigerjahren der radikale nationalistische Glaube, dass man die Welt verändern könnte – zu ihren Gunsten selbstverständlich. Damals erwies sich dies als eine Illusion, heute wird Putin vielleicht Erfolg haben. Ob die gegenwärtige Weltordnung Bestand haben wird, lässt sich aber schwer einschätzen. Zumindest im Augenblick ist sie sehr instabil, ähnlich wie vor rund 85 Jahren. Unsicherheit und Furcht sind wieder dominant.

Richard Overy, Jahrgang 1947, ist gegenwärtig Honorarprofessor an der University of Exeter in Großbritannien. Overy ist einer der führenden Experten für die Geschichte des Zweiten Weltkrieges, den er seit Jahrzehnten erforscht. Der Historiker hat zahlreiche Bücher verfasst, kürzlich erschien sein neuestes Werk „Weltenbrand. Der große imperiale Krieg 1931–1945“ auf Deutsch.

Betrachten wir einmal die Dreißigerjahre: In Ihrem neuen Buch „Weltenbrand. Der große imperiale Krieg 1931–1945“ schreiben Sie, dass der „Zweite Weltkrieg ein Resultat von Entscheidungen“ gewesen wäre, „die in London und Paris getroffen wurden, nicht in Berlin.“ Aber es war doch ohne jeden Zweifel das nationalsozialistische Deutschland, das 1938 in Österreich einmarschierte, 1939 Prag besetzte und im selben Jahr am 1. September dann Polen überfiel?

Auf keinen Fall will ich die Schuld Hitlers und der Deutschen am Zweiten Weltkrieg relativieren oder sie gar davon freisprechen. Ich plädiere aber für eine objektive Betrachtung der Umstände, die zum Ausbruch des Konflikts geführt hatten – und da spielen Großbritannien und Frankreich eine entscheidende Rolle.

Das müssen Sie näher ausführen.

Hitler war alles andere als ein Genie, auch wenn er teilweise so beschrieben wird. Bis in die Gegenwart findet sich die Darstellung, dass er als eine Art Strippenzieher die Weichen bis hin zum Kriegsausbruch 1939 gestellt habe. Tatsächlich war Hitler oft ahnungslos und reagierte mehr auf die Westmächte Großbritannien und Frankreich, als dass er selbst agierte. Wenn es dann ernst wurde, war Hitler unsicher und zögerlich. Vor dem Anschluss Österreichs 1938 musste ihm Hermann Göring beispielsweise erst einmal den Rücken stärken.

Während der sogenannten Sudetenkrise, die Ende September 1938 im „Münchner Abkommen“ mit der Abtretung des Sudetenlandes durch die Tschechoslowakei an das Deutsche Reich kulminierte, war Hitler dann enttäuscht: Durch die Intervention der Westmächte wurde ihm der von ihm erhoffte „kleine“ Krieg gegen das Nachbarland „verwehrt“, wie Sie schreiben.

Der britische Premier Neville Chamberlain hatte Hitler im Vorfeld seiner Reise nach München eine Warnung bezüglich der Gefahr eines Weltkrieges zukommen lassen. Das hat mächtig Eindruck auf Hitler gemacht.

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