Friedrich Merz scheiterte im ersten Wahlgang als Kanzlerkandidat. Die Grünen könnten nun entscheidend ins politische Gefüge eingreifen.
Es ist ein historischer Tag: Friedrich Merz wollte sich eigentlich zum Kanzler der Bundesrepublik Deutschland wählen lassen. Doch er verfehlte im ersten Wahlgang die erforderliche Kanzlermehrheit von 316 Stimmen. Noch am Dienstagnachmittag will Merz einen erneuten Versuch wagen.
Wie geht es nun weiter? Und: Welche Rollen könnten die Grünen jetzt spielen? t-online hat in der Sitzungspause mit Lamya Kaddor gesprochen, der innenpolitischen Sprecherin der Grünen-Fraktion im Bundestag.
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t-online: Frau Kaddor, Sie haben auf X geschrieben: „Merz ist nicht mein Kanzler, aber es geht um unser Land und unsere Demokratie.“ Was meinen Sie damit?
Lamya Kaddor: Ich wünsche unserem Land – als Bürgerin dieses Landes und Demokratin –, dass wir eine stabile Regierung bekommen. Ich wünsche das unserer Bevölkerung. Das ist keine parteipolitische Frage für mich.
Also würden Sie Friedrich Merz im zweiten Wahlgang wählen?
Nein, es kann nicht sein, dass die Opposition dem Kanzlerkandidaten zur Mehrheit verhelfen muss. Das ist nicht unsere Aufgabe. Wenn Merz heute keine Kanzlermehrheit bekommt, kommt ein dritter Wahlgang – vermutlich in zwei Wochen. Dann reicht eine einfache Mehrheit. Wenn er auch die nicht bekommt, muss der Bundespräsident entscheiden, wie es weitergeht. In unserer Fraktion sind wir uns aber einig, dass wir hier nicht parteipolitisch taktieren werden, sondern Verantwortung für die Demokratie tragen.
Lamya Kaddor (geboren 1978) ist eine deutsche Politikerin, Islamwissenschaftlerin, Religionspädagogin und Publizistin. Sie sitzt seit 2021 als Abgeordnete für die Grünen im Deutschen Bundestag und beschäftigt sich dort unter anderem mit Innenpolitik.
Dann könnte es doch sein, dass jemand von den Grünen Merz wählt?
Die Wahl ist geheim. Aber möglich ist das natürlich. Wenn sich jemand dazu gedrängt fühlt, dann ist das ein Problem von Herrn Merz – nicht von uns. Ich möchte mir das nur einmal andersherum vorstellen. Glauben Sie wirklich, die Union hätte in der Opposition je einem Kanzlerkandidaten der Regierung zur Mehrheit verholfen? Niemals.
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Aber beim Schuldenpaket haben Sie doch geholfen?
Ja, das ist wahr. Aber Merz hat das zuerst komplett ohne die Grünen vorbereitet – und nur nach unserem Drängen das Paket angepasst. Auch da ist er bereits gescheitert. Das zeigt auch ein Stück Unfähigkeit. Ich hätte mir gewünscht, dass Merz das schon im Wahlkampf verstanden hätte. Da hat Merz aber nur gezündelt. Jetzt ist es womöglich zu spät.
Warum hat Merz denn keine eigene Mehrheit bekommen?
Das ist Spekulation. Ich kann mir vorstellen, dass der Ärger in der CDU riesig ist, besonders mit Blick auf das Personaltableau. Denn Merz hat den sozialliberalen Flügel – die CDA – völlig übergangen. Vielleicht gibt es auch Merkel-Anhänger, die sich jetzt revanchieren. Es wird offene Rechnungen gegeben haben. Merz bekommt offensichtlich nicht das Vertrauen, das es bräuchte, um Kanzler zu werden. Doch wenn man über Merz spricht, muss man auch über Klingbeil sprechen.
Dabei heißt es aus der SPD, sie habe geschlossen für Merz gestimmt.
Das mag sein. Doch die Wahl ist geheim. Wir wissen nicht, ob die SPD ihn tatsächlich geschlossen gewählt hat, wie sie kolportiert. Am Ende zählt: Merz hat keine eigene Mehrheit. Nicht aus der Union, nicht vom Koalitionspartner. Und deshalb hat auch Klingbeil Verantwortung für die Misere.
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Glauben Sie denn, dass Merz im zweiten oder dritten Wahlgang gewählt wird?
Ich gehe davon aus, dass er es schaffen wird. Aber wenn nicht, ist das ein Problem. Heute ist ein denkwürdiger Tag. So etwas hat es in der Bundesrepublik noch nie gegeben. Es ist kein Gefühl von Triumph. Fraglich ist auch, ob die Demokratie durch die Wahl von Merz stabilisiert würde.
Der Schaden ist schon da. Es sind heute wichtige Reisen abgesagt worden, es gibt keine klare Amtsübergabe. Das Land ist faktisch regierungslos. Und Merz hatte immer davon gesprochen, das Land endlich ins Handeln zu bringen. Jetzt ist das Gegenteil passiert. Das ist der Super-GAU für Friedrich Merz. Das ist mehr als ein missratener Start.
Sehen Sie eine Chance, dass Merz sich aus der Verantwortung zurückzieht?
Das glaube ich nicht. Wenn, dann wird Merz krachend scheitern. Aber wenn jetzt jemand wie Spahn nach vorn drängt, der sich noch offener als Merz an die AfD angebiedert hat, wird’s nicht besser – im Gegenteil. Viele Menschen, die nichts mit Politik zu tun haben, sagen: „Ich versteh‘ das alles nicht mehr.“ Der Vertrauensverlust durch sein Scheitern im ersten Wahlgang ist riesig.