Voßkuhle: Die Anforderungen sind hoch. Das ist auch richtig so, da das Parteiverbotsverfahren die schärfste Waffe in der Demokratie ist. Also „ich ermorde meinen politischen Gegner“ in Anführungsstrichen, deshalb muss man da vorsichtig sein. Die Einschätzung des Verfassungsschutzes ist ein wichtiger Aspekt. Der wird natürlich auch vom Bundesverfassungsgericht berücksichtigt. Aber das Gericht muss sich selbst einen Eindruck von den Dingen machen und genau hinschauen. Da kann es auch zu unterschiedlichen Einschätzungen kommen. Was einzelne Personen angeht, so muss man fragen, inwieweit sind die dominant und führen dazu, dass die gesamte Partei davon infiziert wird. Und da würde man mit dem Bild des Kloakenwassers nicht so richtig weiterkommen, weil wir das auch in anderen Situationen haben, dass nicht Einzelne eine ganze Gemeinschaft desavouieren können.

Voßkuhle: Ich gebe Ihnen ein Beispiel: Wir gehen zusammen auf eine Versammlung und
demonstrieren für Europa. Und dann gibt es drei, vier in unserer Gruppe, die gewalttätig werden, mit denen wir aber eigentlich gar nicht so viel zu tun haben, und das gefällt uns auch alles nicht. Das würde uns dennoch als Gruppe zugeschrieben. Das ist genau so eine Situation, wie wir sie auch im Parteiverbotsverfahren haben. Man kann Dinge unter bestimmten Voraussetzungen zurechnen, aber man kann nicht, nur weil ein oder zwei Leute sich völlig danebenbenommen haben, deshalb eine ganze Partei ohne Weiteres verbieten.

Vor diesem Problem stehen wir. Ich will das jetzt nicht nach einer Seite auflösen, aber wie gesagt, dazu wissen wir zu wenig über die gesamte Lage in der Bundesrepublik, was die AfD angeht. Da ist ein Problem und deshalb ist es nicht so einfach, dass man von einem Verfassungsschutzbericht und Äußerungen einzelner AfD-Politiker auf ein Parteiverbot schließen kann.

Jetzt haben Sie vor allem die juristische Umsetzbarkeit analysiert. Halten Sie ein AfD-Verbot für dennoch persönlich für sinnvoll?

Voßkuhle: Na ja, politisch muss man, glaube ich, anders darauf schauen. Politisch muss man fragen: Was kann man gewinnen und wie lange wird das dauern? Kommt so ein Parteiverbot rechtzeitig, kann ich das doch für die Wahl nutzen? Ich glaube, da muss man realistisch sein. Mir scheint es unrealistisch zu sein, bis zur nächsten Bundestagswahl im kommenden Jahr ein solches Parteiverbotsverfahren zu beenden. Man kann gute Gründe finden für ein solches Parteiverbotsverfahren, man kann aber auch ein paar gute Gründe finden, die zeigen, das könnte ein Schuss nach hinten sein. Es könnte die AfD stärker machen für die kommende Wahl und den kommenden Wahlkampf, weil dann einige Bürgerinnen und Bürger das Gefühl haben, die Alternative wird aus dem Spiel genommen. Und das machen die, die an der Macht sind.



„Wir brauchen eine Strukturreform des Staates“


Andreas VoẞKuhle


Denken Sie, dass die Reform des Bundesverfassungsgerichts ausreichen wird, um gegen diese populistischen Kräfte anzukommen? Oder gibt es noch weitere Parameter, was man darüber hinaus machen kann: politisch, juristisch, aber auch gesellschaftlich?

Voßkuhle: Das Entscheidende wird sein, ob wir größere Teile der Gesellschaft davon überzeugen können, dass sie sich demokratisch engagieren müssen und dass sie sich für demokratische Parteien engagieren müssen. Und da haben wir im Augenblick das Problem. Die Reform der verfassungsrechtlichen Absicherung des Bundesverfassungsgerichts ist ein eher kleiner Baustein in diesem Gesamtkonzept, der aber natürlich auch eine gewisse Wichtigkeit hat. In der Situation, in allen Situationen scheint es mir zentral zu sein, dass wir es schaffen, den Teil der Gesellschaft, der sich vom politischen System abgewendet hat, wieder zurückzugewinnen. Wir müssen uns für unseren Staat einsetzen, wir müssen uns kümmern. Und wir müssen unseren Staat wieder funktionsfähig machen. Der muss insgesamt besser funktionieren. Das muss für den Bürger, für die Bürgerin sichtbar sein.

Was haben Sie da insbesondere im Blick?

Voßkuhle: Genehmigungsverfahren, die Dauer von Gerichtsverfahren, die Infrastruktur, denken Sie an Bahn, Autobahnbrücken, Schulen, Universitäten. Wir brauchen eine Strukturreform des Staates, und wir brauchen eine Aufbruchsstimmung, dass man die Dinge wieder in die Hand nimmt und besser macht. Wir haben auch im Bereich der Digitalisierung sehr viel nachzuholen. Die berühmten Faxgeräte in der Pandemie will ich hier nur noch mal in Erinnerung rufen.

Herr Voßkuhle, Sie sind schon zweimal dafür infrage gekommen, Deutschland an oberster Stelle zu dienen, als Bundespräsident. Wie würden Sie heute auf einen Anruf reagieren, wenn Sie noch mal gefragt würden? 2027 muss es einen neuen Bundespräsidenten geben.

Voßkuhle: Solche Entscheidungen muss man dann treffen, wenn sie an
einen herangetragen werden. So war das damals auch. Ich bin tatsächlich gefragt worden
im Nachgang des Ausscheidens von Herrn Wulff aus dem Amt, dann als Nachfolger von
Herrn Gauck. Und die Mehrheiten waren auch jeweils sicher. Insofern konnte ich mich da
frei entscheiden und habe das aus einem ganzen Bündel von Gründen dann nicht
gemacht. Wie das sein würde, wenn ich wieder gefragt werde, das weiß ich nicht, halte es
aber für sehr unwahrscheinlich, dass man mich noch ein drittes Mal fragt. Insofern werde
ich mich auch mit dieser schwierigen Frage jetzt nicht beschäftigen müssen.

Professor Voßkuhle, vielen Dank für das Gespräch.

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