News folgen

Immer mehr Deutsche werden abhängig. Was steckt hinter der permanenten Zunahme der Suchterkrankungen? t-online fragte einen Spezialisten.

Die Zahl der Menschen, die an einer Suchterkrankung leiden, steigt stetig, wie aktuelle Erhebungen zeigen. 1,5 Millionen Menschen mussten 2023 wegen ihrer Alkoholsucht behandelt werden. Geschätzt wird, dass jedes Jahr 40.000 Personen deswegen vorzeitig versterben. Auch der Kokainkonsum ist stark gestiegen, registriert wird eine Verdreifachung der Fälle in den letzten zehn Jahren. Die Zahl der drogenbedingten Todesfälle hat sich gegenüber den Werten von vor zehn Jahren verdoppelt. Was steckt dahinter? Wie süchtig ist Deutschland? t-online fragte Dr. Alexander Stoll, den Chefarzt von Berlins größter Suchtklinik.

t-online: Herr Stoll, für welche Süchte sind die Deutschen besonders anfällig?

Alexander Stoll: Volksdroge Nummer 1 ist unverändert der Alkohol. 1,6 Millionen Deutsche sind alkoholabhängig. Daneben haben wir das Problem der Medikamentenabhängigkeit. An dritter Stelle folgt Cannabis vor Amphetaminen und Kokain.

Cannabis? Hängt das mit der Legalisierung zusammen?

Nein, dafür ist die Zeitspanne zu kurz. Cannabis war schon vor der Legalisierung sehr verbreitet. Es gilt auch als Einstiegsdroge. Jugendliche kommen in der Regel mit Nikotin und Alkohol in Kontakt und dann häufig eben auch mit Cannabis. Sorge bereitet den Experten, dass der legale Anbau und Konsum ab 18 Jahren dafür sorgen könnte, dass die Dealer als neuen Absatzmarkt die unter-18-Jährigen entdecken.

Alexander Stoll (Quelle: Mark Garner/ Vivantes/t-online)

Der Suchtmediziner Alexander Stoll ist Chefarzt in der Entwöhnungstherapie am August-Viktoria-Klinikum (Vivantes). Sie gilt als Berlins größte Suchteinrichtung.

Der Kokainkonsum hat sich verdreifacht auf 850.000 Menschen, 250.000 sind zudem kokainabhängig. Wie erklärt sich der enorme Anstieg?

Das hat in erster Linie mit der Verfügbarkeit zu tun. Seit etwa 2015 überschwemmen die südamerikanischen Kartelle den europäischen Markt. Die Produktionsmengen wurden deutlich gesteigert, wir haben es hier mit organisierter Kriminalität zu tun.

Wie gelangt das Kokain ins Land?

Über die Häfen kommt tonnenweise Kokain ins Land. Das führt dazu, dass die Preise fallen. Früher kostete ein Gramm mal 100 Euro, heute nur noch 40. Durch den Preisverfall und die erhöhte Verfügbarkeit ist der Konsum in die Höhe geschossen. Dazu kommt, dass illegale Drogen-Lieferdienste boomen. In Berlin haben Sie das Phänomen der Koks-Taxis, die eine schnelle Lieferung versprechen innerhalb von fünf bis 30 Minuten.

Wie wird man eigentlich süchtig?

Bei allen Suchtmitteln verspüren Konsumenten anfänglich einen positiven Effekt. Die Droge erleichtert ihnen, mit Konflikten umzugehen, Stress abzubauen oder schlicht die Langeweile zu bekämpfen. Dann gewöhnt man sich an die Droge und um den gleichen Effekt zu erzielen, muss die Dosis gesteigert werden.

Sie unterscheiden zwischen physischer und psychischer Abhängigkeit?

Ja, bei einer psychischen Abhängigkeit spürt der Konsument eine psychische Leere, Antriebslosigkeit und hat depressive Gefühle, wenn er die Droge nicht zu sich nimmt. Bei einer körperlichen Abhängigkeit kommen Entzugserscheinungen hinzu, wie Schwitzen oder Zittern. Körperliche Schäden zeigen sich beim Alkohol an der Leber, bei Kokain am Herzen.

Wann erkennen Menschen, dass sie Hilfe brauchen?

Dafür muss es meist einen Leidensdruck geben. Klassisch sind Ereignisse, bei denen die Sucht dazu führt, dass sich etwa die Partnerin trennt, jemand den Führerschein oder den Arbeitsplatz verliert. Oft stellen sich Betroffene erst dann ihrem Problem.

Was sollten sie dann tun?

Sie sollten zunächst entgiften, und zwar ärztlich begleitet in einer Psychiatrie. Anschließend sollten sie in eine Klinik zur Entwöhnungstherapie gehen, um zu lernen, wie sie mit dem Suchtdruck umgehen können und nicht rückfällig werden.

Wie lange dauert so etwas?

Für Alkoholabhängige sind 13 Wochen empfohlen, bei allen anderen Substanzen sind es 22 Wochen.

Wie hoch ist die Rückfallquote?

In der Therapie gering, danach aber konsumieren ein Drittel weiterhin ihr Suchtmittel.

Was müsste sich beim Umgang mit Suchtkranken hierzulande ändern?

Die Wahrnehmung. In den USA wird Sucht als Krankheit gesehen, in Deutschland dagegen oft mit dem Stigma einer Charakterschwäche versehen. „Reiß dich mal zusammen“ oder „Hör doch einfach auf“. Doch das hilft Süchtigen nicht. Es handelt sich um eine Krankheit. Aber wir sind auf dem Weg der Entstigmatisierung.

Herr Stoll, wir danken Ihnen für das Gespräch!

Share.
Exit mobile version