Missbrauchsdebatte im deutschen Turnen
„Habe gemerkt, welches Fass ich aufgemacht habe“
09.01.2025 – 12:06 UhrLesedauer: 3 Min.
Tabea Alt hatte mit ihrem Gang an die Öffentlichkeit die Missbrauchsdebatte im Frauenturnen ins Rollen gebracht. Nun äußerte sie sich erneut und fordert konkrete Erneuerungen.
Mit einem aufsehenerregenden Instagram-Post machte Ex-Turnerin Lisa Alt vor zwei Wochen schwere Missstände am Turnstützpunkt Stuttgart öffentlich. Darin schilderte sie ernste Vorwürfe: „Essstörungen, Straftraining, Schmerzmittel, Drohungen und Demütigungen waren an der Tagesordnung. Wir wurden von klein auf manipuliert, um somit kontrollierbar zu sein. Wir waren Spielbälle“, schrieb Alt.
Die Reaktionen ließen nicht lange auf sich warten. Mehrere ehemalige Kolleginnen vom Stuttgarter Stützpunkt meldeten sich zu Wort, bestätigten Alts Schilderungen und offenbarten weitere Details. Die Vorwürfe werfen ein erschreckendes Licht auf die Bedingungen am renommierten Standort, der seit Jahren als einer der führenden Trainingsstützpunkte in Deutschland gilt.
Nun erneuerte Alt, die im April 2021 wegen anhaltender Verletzungen im Alter von nur 21 Jahren vom Turnsport zurücktrat, ihre Vorwürfe. Im Interview mit dem „Spiegel“ klagt sie an: „Wir wurden kaputt gemacht, wir haben extrem gelitten, aber es hat uns auch stark gemacht. Und wir stecken jetzt unglaublich viel Energie da hinein, diese Erfahrungen von damals zu verarbeiten.“
Nach ihrem Instagram-Post habe sie „schon gemerkt, welches Fass ich aufgemacht habe. Die seelischen Narben tragen wir alle. Jetzt geht es um Verarbeitung, und der Gang an die Öffentlichkeit ist Teil davon. Ich möchte verhindern, dass jungen Mädchen wieder das passiert, was ich durchgemacht habe.“
Denn dass die Zustände in Stuttgart und auch am Stützpunkt in Chemnitz, wo bereits 2020 ähnliche Fälle Aufsehen erregt hatten, Einzelfälle sind, glaubt Alt nicht. „Kaum vorstellbar. In erster Linie ist es das System Frauenturnen. Ein System, das eine Erneuerung braucht.“
Davon, wie diese aussehen soll, hat die 25-Jährige konkrete Vorstellungen: „Es muss ein Konzept her, in dem Eltern, Athleten, Ärzte und Trainer auf einer Ebene reden und handeln. Meine Erfahrungen haben gezeigt, dass in Gesprächen zwischen Trainern und den Ärzten oder der Bundestrainerin meine gesundheitliche Situation und meine Schmerzen, wie sie im Training bekannt waren, nicht wahrheitsgemäß weitergegeben wurden.
Sie fordert: „So etwas darf es nicht mehr geben. Und bei der Aus- und Weiterbildung von Trainern muss einiges passieren. Ich studiere nun Medizin, und als Mediziner musst du in deinem Beruf immer wieder Fortbildungspunkte nachweisen. Warum soll das nicht auch für Trainer gelten?“
Auch die frühere Spitzenturnerin Janine Berger hatte sich im Zuge der Missbrauchsdebatte deutlich geäußert. Sie prangerte an: „Dass im deutschen Turnen Missstände herrschen, ist intern schon lange klar. Es tut mir in der Seele weh und macht mich gleichzeitig wütend zu sehen, dass viele Talente weiterhin psychisch und physisch kaputt gemacht werden und das muss endlich ein Ende haben. Es geht um Kinder.“
Deshalb fordert sie nun externe Kontrollmechanismen von außerhalb des Verbandes. „Es bringt mir nichts, irgendwelche unabhängigen Personen in Verbänden anzustellen, weil die auch wieder in dieser Struktur verwurzelt sind“, sagte die Olympia-Vierte von 2012 bei RTL/ntv. „Wir brauchen jemanden, der komplett von draußen draufschaut.“
Die Offenlegung der Missstände durch mehrere Athletinnen hat eine breite Diskussion in der Sportwelt angestoßen und könnte Konsequenzen für den deutschen Turnsport nach sich ziehen.