Von J. Scott Marcus, Associate Senior Research Fellow, CEPS

Die in diesem Artikel geäußerten Meinungen sind die des Autors und spiegeln in keiner Weise die redaktionelle Position von Euronews wider.

Die Maßnahmen, die nötig wären, damit die EU große digitale Champions hervorbringen kann, sind klar und unkompliziert. Sie würden nicht nur unserem digitalen Sektor, sondern auch Pensionsfonds, dem Versicherungssektor und zukünftigen Rentnern zugutekommen, schreibt J. Scott Marcus.

Warum gelingt es der EU nicht, ein eigenes Google, Amazon oder Facebook hervorzubringen? Fehlt es Europa an Unternehmergeist, technischem Know-how oder einfach nur an Vorstellungskraft?

Anders als viele denken, ist die EU bei der Gründung von High-Tech-Start-ups sogar erfolgreicher als die USA. Dennoch geraten viele europäische Firmen aufgrund fehlender Finanzmittel auf der Stelle.

Dabei liegt eine einfache Lösung schon seit Jahrzehnten klar auf der Hand – wir müssen sie nur begreifen. Die Antwort lautet, wie bei vielen anderen Fragen, Geld.

In den letzten fünf Jahren hat die EU jedes Jahr mehr Hightech-Start-ups hervorgebracht als die USA. Dennoch gelingt vielen von ihnen der Aufstieg nicht, während andere sich auf der anderen Seite des Atlantiks nach besseren Standorten umsehen.

Europas Ängstlichkeit wird deutlich

Eine grundlegende Ursache hierfür liegt darin, dass die Europäer als Anleger zurückhaltend sind und vielen von uns die nötige Finanzkompetenz für sinnvolle Investitionen fehlt.

In der EU liegen 31 Prozent der Ersparnisse der privaten Haushalte in Bargeld oder Einlagen vor, in den USA sind es nur 12 Prozent. Dadurch bleibt in der Union weniger Spielraum für Aktien und Anleihen.

Vor allem deshalb hat die EU im Verhältnis zum BIP doppelt so viel Geld in ihren Banken wie die USA und nur halb so viel auf den Kapitalmärkten für Aktien. Dasselbe gilt für Anleihen.

Für Innovationen ist das problematisch. EU-Unternehmen finanzieren sich zu etwa 80 Prozent über Bankkredite. Das ist ganz klar nicht die Art, riskante Start-ups zu finanzieren, die in der Regel keine nennenswerten Gewinne vorweisen können und deren Vermögenswerte größtenteils immateriell sind und sich daher nicht als Sicherheit eignen.

Bei der Finanzierung von Start-up-Unternehmen ist die Lage sogar noch schlimmer. Die USA verfügen über zwanzigmal so viel Risikokapital wie die EU – 1,3 Billionen Euro, verglichen mit mickrigen 72 Milliarden Euro.

Unternehmen, die noch nicht für einen Börsengang bereit sind, erhalten – sofern sie überhaupt Risikokapital oder Private Equity auftreiben können – im Schnitt nur ein Fünftel so viel Risikokapital bzw. nur ein Zwanzigstel so viel Private Equity wie ihre US-amerikanischen Pendants.

Die europäischen Institutionen ringen seit Jahren die Hände und finden gelegentlich einen Weg, ein oder zwei Milliarden Euro in die Finanzierung von Start-ups zu pumpen. Das ist zwar schön und gut, aber es steht in keinem Verhältnis zum Ausmaß des Problems.

Wie haben die USA das gemacht?

Bei all dem wird übersehen, wie die USA ihr Silicon Valley aufgebaut haben. Brillante, unternehmerische Technologen haben sicherlich eine Rolle gespielt, ebenso wie die Forschungsförderung durch die US-Regierung. Eine Schlüsselentwicklung war jedoch eine kaum beachtete Änderung der US-Regulierung von Pensionsfonds.

Bis zur Verabschiedung des ERISA-Gesetzes im Jahr 1974 waren Pensionsfonds im Allgemeinen auf relativ sichere Investitionen beschränkt. ERISA änderte dies, indem es anerkannte, dass eine „umsichtige Person“ in der Regel ein Portfolio wünschen würde, das eine Mischung widerspiegelt, die auch einige riskantere Instrumente enthält.

Dies löste eine wachsende Flut von Pensionsfondsgeldern in Risikokapitalfonds aus. Ohne sie wäre das Silicon Valley, wie wir es heute kennen, undenkbar gewesen.

Die EU befindet sich heute in einer weitgehend gleichen Lage wie die USA vor dem ERISA-Abkommen – und dies ist ein wesentlicher Grund, warum ein „europäisches Silicon Valley“ derzeit undenkbar ist.

Doch das muss nicht so sein. Die Pensionsfonds der EU halten Vermögenswerte von rund 4 Billionen Euro, während die Versicherungsunternehmen (bei denen einige Pensionspläne Pensionspläne sind) Vermögenswerte von rund 9 Billionen Euro haben. Pensionsfonds investieren jedes Jahr Milliarden in Risikokapital, doch diese scheinbar großen Investitionen sind in Wirklichkeit Peanuts – was sie pro Jahr investieren, beträgt weniger als ein Hundertstel von 1% ihrer Vermögenswerte.

Es gibt keinen Mangel an vielversprechenden EU-Unternehmen, in die investiert werden könnte. Tatsächlich werden in der EU jedes Jahr mehr Start-ups gegründet als in den USA, und die Rendite von Risikokapitalinvestitionen ist in der EU um etwa 6 Prozent höher. Risikokapital bietet hohe Renditen, im Durchschnitt etwa 29 Prozent, bei überraschend geringer Volatilität.

Klare und unkomplizierte Maßnahmen erforderlich

Es wäre naheliegend, darauf zu reagieren, dass Pensionsfonds künftige Rentner keinem Risiko aussetzen sollten, aber das geht am Thema vorbei. Jeder Anlageberater würde jedem Unternehmen oder jedem Haushalt sagen, dass ein Portfolio mit einer Mischung aus Risiko-Rendite-Profilen diversifiziert werden sollte, die den Anlagezielen des Anlegers entsprechen.

Die Pensionsfonds haben das verstanden und die meisten von ihnen würden gern von den allzu restriktiven Anlagevorschriften der Mitgliedstaaten befreit werden.

Und eine Verzwanzigfachung der aktuellen Investitionen der Pensionsfonds würde zwar den jährlichen Beitrag zum Risikokapital in der EU ungefähr verdreifachen, würde aber immer noch weniger als zwei Zehntel Prozent der Vermögenswerte der Pensionsfonds ausmachen.

Dieselbe Logik gilt für künftige Rentner – ein ausgewogenes Portfolio mit einem Mix aus Instrumenten würde ihnen tendenziell zugute kommen, insbesondere wenn der Ruhestand noch weiter entfernt ist.

Der in Europa anhaltende Wandel von Rentensystemen mit Leistungszusagen hin zu Rentensystemen mit Beitragszusagen, verbunden mit einer Abkehr von sogenannten Pay-as-you-go-Plänen (PAYG-Plänen), bietet sich für Pläne an, bei denen künftige Rentner ihre Investitionen so steuern können, dass sie ihrer individuellen Risikobereitschaft und ihren Anlagebedürfnissen entsprechen.

Man macht sich vielleicht Sorgen um diejenigen, die kurz vor der Rente stehen, aber einfache Regeln oder Richtlinien könnten sie davon abhalten oder entmutigen, unklug in risikoreiche Instrumente zu investieren.

Die Maßnahmen, die nötig wären, damit die EU große digitale Champions hervorbringen kann, sind klar und unkompliziert. Sie würden nicht nur Europas digitalem Sektor, sondern auch unseren Pensionsfonds, unserem Versicherungssektor und unseren künftigen Rentnern zugutekommen.

Die einzigen Hindernisse, die dem im Weg stehen, sind die europäische Ängstlichkeit und der Konservativismus sowie das Fehlen eines konkreten politischen Programms zur Umsetzung der notwendigen Veränderungen.

J. Scott Marcus ist Ökonom, Ingenieur und Politikanalyst. Er ist Associate Senior Research Fellow in der Abteilung Global Governance, Regulation, Innovation and Digital Economy (GRID) am Centre for European Policy Studies (CEPS).

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