Mario Draghis Bericht zur Wettbewerbsfähigkeit fordert die EU auf, jährlich 750 bis 800 Milliarden Euro zu investieren, um die wirtschaftliche Lücke zu den USA und China zu schließen. Während Experten den Vorstoß der EU zu gemeinsamen Maßnahmen und Reformen loben, bleiben Bedenken hinsichtlich der Finanzierung, des politischen Konsenses und der künftigen Auswirkungen bestehen.

Am 9. September veröffentlichte der ehemalige italienische Ministerpräsident Mario Draghi einen richtungsweisenden 400-seitigen Bericht, der eine schonungslose Einschätzung der wirtschaftlichen Gesundheit der EU vorlegt und sofortige Reformen fordert, um die wachsende Kluft zu den globalen Wirtschaftsgiganten zu überbrücken.

Diesmal besteht die Herausforderung nicht in der üblichen Spanne zwischen den Renditen der Staatsanleihen der Eurozone, sondern in einer größeren wirtschaftlichen Kluft zwischen der Europäischen Union und den Vereinigten Staaten, die sich in den vergangenen zwanzig Jahren stetig vergrößert hat.

Der Bericht fordert gemeinsames Handeln und erhebliche Investitionen. Draghi zufolge muss Europa dringend jährlich schätzungsweise 750 bis 800 Milliarden Euro mobilisieren, um die Lücke zu schließen.

Obwohl Draghis Bericht für Europa ein neuer „Whatever It Takes“-Moment sein könnte, stehen ihm auch erhebliche Herausforderungen bevor, insbesondere was die Sicherung der Finanzierung und eines politischen Konsenses betrifft.

Einige Experten betrachten die Strategie als wichtigen Katalysator für Veränderungen, andere wiederum warnen, dass ihre Wirkung durch die Konzentration auf vergangene Herausforderungen und das Fehlen einer Notfallplanung begrenzt sein könnte.

Die politischen Hindernisse

Athanasios Vamvakidis von der Bank of America betrachtet den Bericht als einen kleinen, aber entscheidenden Schritt auf dem Weg zu einem möglicherweise langen und schwierigen Reformprozess.

„Wir teilen die Sorge, dass die EU-Staats- und Regierungschefs derzeit weit von einem Konsens über solche Reformen entfernt sind“, stellt er fest.

Trotzdem meint er, dass die Empfehlungen des Berichts als „positives EUR-Risiko“ dienen könnten und das Marktinteresse wecken könnten. Er geht jedoch davon aus, dass wesentliche Maßnahmen zumindest bis zum nächsten Jahr verschoben werden.

Das Finanzierungsdilemma der EU

Laut Filippo Taddei, einem Ökonomen bei Goldman Sachs, hinkt die EU seit 2010 den USA hinterher. Er warnt, dass die „langfristige Erschwinglichkeit des Lebensstandards in den europäischen Ländern nun in Frage gestellt“ sei.

Taddei ist allerdings skeptisch, was die Durchführbarkeit von Draghis Vorschlägen angeht, und weist darauf hin, dass die Finanzierung weiterhin die größte Herausforderung darstelle.

Der Ökonom argumentiert, dass es unwahrscheinlich sei, dass die EU in der Lage sein werde, die notwendigen Mittel aufzubringen, sofern die proeuropäische Integration nicht in Deutschland und Frankreich eine starke parlamentarische Unterstützung erhalte.

„Die europäischen Politiker sind sich noch immer uneinig, was den relativen Anteil angeht, der auf nationaler und EU-Ebene geleistet werden sollte“, sagt er.

Diese Verzögerung könnte die Einführung kostspieligerer Investitionsmaßnahmen verzögern. Infolgedessen bleibt die Prognose von Goldman Sachs zur Emission von EU-Schulden für 2025 unverändert, obwohl er andeutet, dass einige weniger kostspielige Regulierungs- und Industriereformen nächstes Jahr beginnen könnten.

Ein Weckruf für Reformen

Jeromin Zettelmeyer, Direktor von Bruegel, lobt den Bericht als „starken Ruck für die politische Debatte der EU“ und bezeichnet die darin enthaltenen Vorschläge zur Förderung von Innovationen, zur Verringerung der Fragmentierung des Kapitalmarkts und zur Ausgabe gemeinsamer Schuldtitel zur Finanzierung wichtiger Güter als überzeugend und notwendig.

Besonders überzeugend findet er die Vorschläge des Berichts, den EU-Haushalt auf öffentliche Güter zu konzentrieren und die Regierungsführung zu reformieren. Allerdings weist er auch darauf hin, dass „andere Empfehlungen Bedenken hinsichtlich unbeabsichtigter Folgen“ hervorrufen, wie etwa „Erhöhungen der Subventionen sowohl für saubere Technologien als auch für energieintensive Industrien“.

Bruegel hat betont, dass die großen Herausforderungen Europas – die Ankurbelung des Wachstums, die Dekarbonisierung der Wirtschaft und die Verbesserung der Sicherheit – komplex und eng miteinander verknüpft sind und dass es dafür keine einfachen Lösungen gibt.

Ein Schritt in die richtige Richtung

Der für seine Arbeiten zur Einkommens- und Vermögensungleichheit bekannte französische Ökonom Thomas Piketty bezeichnete den Bericht in einem Kommentar für Le Monde als „einen Schritt in die richtige Richtung“.

„Dieser Bericht hat den immensen Wert, das Dogma der Haushaltsausterität in Frage zu stellen“, fügte er hinzu.

Er begrüßt Draghis Forderung, die finanziellen Prioritäten der EU zu überdenken, insbesondere angesichts der Tatsache, dass es in Europa Stimmen gibt, die eine längere Straffung der Haushaltspolitik befürworten.

Piketty spielte die Bedenken über die Staatsverschuldung einiger Mitgliedstaaten herunter und stellte fest, dass diese Schulden zwar hoch, aber nicht beispiellos seien. Er argumentierte, dass die Regierungen ihre Ausgaben steigern und die derzeit sehr niedrigen Realzinsen ausnutzen sollten.

Fehlende Vorausplanung

Andrea Renda, Forschungsdirektor am Centre for European Policy Studies (CEPS), sieht Draghis Bericht kritischer und beschreibt ihn als „traditionelle ökonomische Sichtweise, bei der das BIP-Wachstum der Eckpfeiler sozioökonomischer Leistungsfähigkeit ist“.

Laut Renda befasst sich der Bericht eher mit den Herausforderungen der letzten zwei Jahrzehnte, als dass er künftige Krisen vorhersieht.

Er kritisiert, dass es nicht gelungen sei, Alternativpläne für den Fall zu entwerfen, dass die Dinge nicht wie erhofft laufen.

„Doch im Zeitalter der Poly- (oder sogar Perma-)Krise ist es ein großes Warnsignal, wenn wir Alternativen für den Fall, dass die Dinge nicht wie erhofft ausgehen, nicht einmal in Betracht ziehen“, argumentiert er.

Abschließende Gedanken

Draghis Bericht soll für Europa ein (weiterer) „Whatever It Takes“-Moment sein und die Notwendigkeit gemeinsamen Handelns und erheblicher Investitionen hervorheben.

Zwar hat der Plan eine notwendige Debatte angestoßen und wichtige Bereiche für Reformen aufgezeigt, doch stehen seiner Umsetzung gewaltige Hürden bevor – von der Sicherung der Finanzierung bis hin zur Überwindung politischer Spaltungen.

Ob die EU diesen Plan in die Tat umsetzen wird, bleibt abzuwarten. Doch selten stand für Europas wirtschaftliche Zukunft mehr auf dem Spiel.

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