Aus Freude wurde Angst, aus entspanntem Feiern Wut. Ein Messerangriff ist zu einem Wendepunkt für die Einwohner von Solingen geworden. Und nicht nur dort stellt sich die Frage: Was kommt jetzt?
Nach atemlosen Stunden in der ganzen Stadt kämpfen vor einer Kirche in Solingen kleine Kerzenflammen darum, nicht auszugehen. Es ist plötzlich sehr kühl geworden, es geht ein kalter Wind, und das im August. Immer wieder kommen Menschen und zünden eine neue Kerze an. Und auf einem großen Schild steht „Warum?“.
Am Freitagabend sind ein paar Schritte entfernt drei Menschen bei einem Messerangriff auf dem Solinger Stadtfest, dem „Festival der Vielfalt“, getötet worden. Was in den Stunden danach geschah – und zum Teil auch: nicht geschah – hat Solingen mit seinen rund 160.000 Einwohnern verändert. Erst am späten Samstagabend wird ein Mann festgenommen, der der Täter sein soll. Ein 26 Jahre alter Syrer. Er soll blutverschmiert gewesen sein.
Neben dem Tatort, der noch immer abgesperrt ist, steht am Sonntagmorgen Philipp Müller und organisiert ein Fest, das es nicht mehr gibt. Müller hat die 650-Jahr-Feier, die Solingen begehen wollte, mit auf die Beine gestellt. Am Freitagabend wurde er angerufen. Er sah Menschen, die reanimiert wurden. Er sah Tote.
„Ich habe gestern die Bilder den ganzen Tag im Kopf gehabt“, sagt er. Und, da sei er ehrlich: Er habe dann auch etwas Alkohol getrunken. Nun – so „idiotisch“ das klinge – widme er sich der Organisation. Auf der Bühne, vor der die Attacke geschah, stehen immer noch Instrumente. Er würde sie gerne der Band zurückgeben. Selbst das Bühnenlicht ist noch an. „Wir haben angeboten, dass wir es ausmachen. Aber die Polizei sagt: Es ist ein Tatort“, sagt Müller. Spurensicherung – er versteht das. Er sagt aber auch: „Das ist alles dystopisch.“
Seit Freitagabend erlebt Solingen einen Alptraum. Nach dem Messerangriff verschwindet der Täter und wird erst einmal nicht gefunden. Eine Videoüberwachung der Polizei gab es nicht. Der Mann bleibt zunächst ein Phantom, was die Lage sehr angespannt und diffus macht.
Noch in der Tatnacht reist NRW-Innenminister Herbert Reul (CDU) an. Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) fordert eine harte Strafe für den Täter. Bundesinnenministerin Nancy Faeser (SPD) kommt am Samstag, zusammen mit NRW-Ministerpräsident Hendrik Wüst (CDU) und – abermals – Reul. Sie nennt den Anschlag „widerwärtig“ und sagt: „Wir lassen uns in solchen Zeiten nicht spalten, sondern stehen zusammen und lassen es auch nicht zu, dass ein solch furchtbarer Anschlag die Gesellschaft spaltet.“
Die Bevölkerung hat zu diesem Zeitpunkt allerdings nicht nur Sorge vor einer Spaltung, sondern vor einer konkreten Gefahr. Es ist relativ wenig, was die Behörden der verunsicherten Bevölkerung sagen können. Gibt es ein gesichertes, veröffentlichbares Foto von dem Angreifer? Nein. Was war das Motiv? Schwierig zu sagen. In den sozialen Netzwerken überschlagen sich da bereits die Kommentare.
Weitere Städte sagen ihre Feste ab. In Solingen herrscht Anspannung. Viele Menschen fragen sich schlicht: Kann ich noch vor die Tür gehen? Ist der Täter noch in der Stadt? Oder längst über alle Berge, wofür auch einiges sprechen könnte. Denn die Polizei findet ihn nicht.
Von Polizeiaktionen im ganzen Land wird berichtet. Am Samstagabend stürmt die Polizei eine Flüchtlingsunterkunft in Solingen. Aber erst später, in der Nacht, gibt es ein leichtes Aufatmen. Ein Mann stellt sich selbst und gibt an, der Täter zu sein. Er wird nicht in Berlin, Hamburg oder im Ausland aufgegriffen – sondern nur wenige Hundert Meter von Tatort entfernt. Wieder mitten in Solingen.