Die 19 Millionen Häuser in Deutschland könnten Sie dazu veranlassen, sich 19 Millionen Mal die gleiche Frage zu stellen: Wie leben die Menschen hinter diesen Fassaden? Die Antwort lautet: leidenschaftlich! Wenn man davon ausgeht, dass die Deutschen ihre Emotionen auf Fußball oder das Verwöhnen ihrer Autos beschränken, muss man noch einmal darüber nachdenken. Hauswirtschaft ist in Deutschland ein beliebter Sport. Kein anderes Land investiert so viel in das Eigenheim wie wir. Nirgendwo sonst in Europa geben die Menschen mehr Geld für Möbel aus und investieren mehr Mühe in sie. Es hat etwas mit der engen Beziehung zwischen häuslicher Umgebung, Psyche und Wohlbefinden zu tun, die die Deutschen so liebevoll pflegen wie ihren Vorgarten. Zuhause ist eine Art emotionales Breitbandantibiotikum: Rückzugsort, Ego-Erfüllung, privater Spielplatz. Dabei geht es nicht nur darum, ein paar Räume einzurichten, es geht vielmehr darum, ein Selbstporträt zu schaffen, eine emotionale Leinwand. Am liebsten mit soliden, robusten und langlebigen Gegenständen, die auf ihren holzfurnierten Schultern die Last der Wohnansprüche so mühelos tragen wie Atlas die Welt: Einbauküchen, Oberschränke, Sideboards.

Der Leitgedanke des Designs ist vor allem Gemütlichkeit. Es hat unbestreitbar Vorrang. Der Archetyp ist in Hamburg zu sehen. Bei der Werbeagentur Jung von Matt findet sich das durchschnittliche deutsche Wohnzimmer: 20 Quadratmeter Fläche, eine Couch, eine Wohnwand aus Buchenfurnier, ein schwarzer Deckenstrahler und blauer Veloursteppich. Das ist das Ergebnis aktueller Wohnstatistiken, Studienanalysen und Fachartikel. Die Idee dahinter ist, dass die loftbegeisterten Werbetreibenden in das echte Wohngefühl ihrer Zielgruppe eintauchen möchten. Es ist wirklich ziemlich genial. Andererseits beklagen zahlreiche Bewohner des am weitesten verbreiteten Wohnzimmers Deutschlands, dass sie ihres Geschmacks und der Überzeugung, etwas Besonderes zu sein, beraubt wurden. Dies ist ein weiterer Punkt auf der To-Do-Liste des Wohnens: Individualität. Deshalb lieben wir Formulierungen wie „Unsere Kunden erwerben mit der Wahl einer dieser Küchen ein unvergleichliches und einzigartiges personalisiertes Produkt.“ Wir ignorieren jedoch gerne die Tatsache, dass jedes dieser „individuellen Einzelstücke“ in etwa so verbreitet ist wie Alpenveilchen, Efeu oder Orchideen auf der Fensterbank, die drei beliebtesten Zimmerpflanzen Deutschlands. Oder Schwarz, Braun und Weiß – die Farben, die am häufigsten gekauft werden.

Um es auf den Punkt zu bringen: Die Divergenz zwischen Sein und Schein, Wunsch und Wirklichkeit, Können, Zwängen und Freiheiten, dem Verlangen nach Einzigartigkeit und dem Bedürfnis, Teil des Ganzen zu sein, ist selten so deutlich zu spüren wie in unserem eigenen Zuhause. Aber das macht uns keine Sorgen, denn wir sind souveräne Individuen in unseren eigenen vier Wänden. Mit anderen Worten: Wir leben nah am Leben, an den Dingen, wie sie sind, und in gewissem Maße auch nah an den Dingen, wie sie sein sollten. Deshalb stöbern jeden Monat rund drei Millionen Deutsche in den Seiten hochglänzender Interior-Design-Magazine, kaufen Einrichtungsratgeber und klicken sich durch die immer zahlreicher werdenden Websites zum Thema Wohnen. Manchmal gehen sie dann in den Möbelladen, ihrer liebsten Freizeitbeschäftigung, und werfen einen Blick auf die wärmstens empfohlene minimalistische Designercouch oder den exzentrischen Wohnzimmertisch zum Preis eines Kleinwagens. Doch meist kehren sie mit dem weich bezogenen Monstrum eines bequemen Fernsehsessels zurück, samt Fernbedienung für fünf stufenlos verstellbare Liegepositionen. Zu solch profanen Überzeugungen braucht man Mut. Und deshalb lebt es sich in Deutschland nicht nur gemütlich, sondern in gewisser Weise auch ziemlich cool. ▪

CONSTANZE KLEIS lebt, arbeitet und ist in Frankfurt am Main zu Hause. Die Bestsellerautorin besitzt zwar keine Schrankwand, dafür aber eine schwarze Couch.

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