Der Clan der Kennedys brachte es bis ins Weiße Haus – doch der Patriarch hütete ein düsteres Geheimnis. Das mit zur Gründung der Special Olympics geführt hat.
Hunderttausende Amerikaner bejubelten am 20. Januar 1961 in Washington, D.C. einen Mann: John Fitzgerald Kennedy, der an diesem Tag sein Amt als neuer Präsident der Vereinigten Staaten antrat. Auch der gesamte Clan der Kennedys stimmte in den Jubel ein. Der ganze? Nein.
Rosemary Kennedy, Johns jüngere Schwester, befand sich zu diesem Zeitpunkt weit weg vom Geschehen. Denn Joseph P. Kennedy, der Patriarch der Familie, fürchtete den Skandal. Im November 1941 hatte er Rosemary einem Scharlatan ausgeliefert: Walter J. Freeman, seines Zeichens Arzt und entschiedener Befürworter der Lobotomie. Ein medizinischer Eingriff beim Gehirn, bei dem die Nervenbahnen zwischen der Hirnregion Thalamus und den Frontallappen gekappt werden.
Allerlei Erkrankungen versprach Freeman mittels der Lobotomie heilen zu können, zum Missfallen der American Medical Association, die das Gebaren des Arztes mehr als kritisch sah. Rosemary Kennedy wurde trotzdem sein Opfer. Bei ihrer Geburt 1918 war es zu Komplikationen gekommen, der angeforderte Arzt war verspätet gewesen, die Hebamme zögerlich und unfähig.
Möglicherweise hat der Säugling Rosemary während der langen und schwierigen Geburt zu wenig Sauerstoff bekommen. Diese Vermutung äußerten jedenfalls die Autorinnen Kate Clifford Larson und Elizabeth Koehler-Pentacoff in ihren Büchern über Rosemary. Fest steht, dass sie zum Missfallen ihrer Eltern Joseph und Rose Kennedy anders war als ihre acht Geschwister. „Sie war langsam in allem“, schrieb Rose Kennedy. „Sie schien unfähig zu sein zu lernen, wie man manche Dinge tut.“
Für Vater Joseph war Rosemary damit eine Enttäuschung, im Gegenteil zu Mutter Rose, die ihr wohl ehrliche Zuneigung entgegenbrachte. Joseph Kennedy, ein Aufsteiger, der es zu Macht, Wohlstand und Einfluss gebracht hatte, erzog seine Kinder mit unerbittlicher Härte. Kein Zeichen der Schwäche durften Kennedy-Kinder zeigen, so etwas gab es in seiner Welt nicht: „Kennedys weinen nicht!“
Kennedys durften seiner Meinung nach auch vieles andere nicht. Etwa Kontakt zu Männern suchen – was in einer Schwangerschaft hätte enden können – oder im Ärger oder Überschwang handgreiflich werden, wie es Rosemary nach einem längeren Aufenthalt in Großbritannien wohl getan hat. Vielleicht war es auch Auflehnung gegen das strenge Regiment des Vaters. Man wird es nie erfahren. Joseph Kennedy suchte jedenfalls nach einer „Lösung“ für dieses „Problem“ – und fand sie in Walter Freeman.
Eine brutale, eine unbarmherzige „Lösung“, die zudem auch noch im Desaster endete. Denn nach dem Eingriff war Rosemary unfähig, sich zu artikulieren, ihre Motorik schwer geschädigt. Joseph Kennedy vertuschte, was geschehen war, ließ seine Tochter fortbringen. Pflegeanstalten sollten ihr neues Zuhause werden. Denn Kennedy hatte noch große Pläne, die sich schließlich auf seinen Sohn John Fitzgerald konzentrierten – und diesen ins Weiße Haus tragen sollten.
Rosemary befand sich zu diesem Zeitpunkt schon viele Jahre in Wisconsin, weit entfernt vom politischen Geschehen. Sie war in einer von Nonnen betriebenen Pflegeeinrichtung untergebracht. Fragten sich aber weder Mutter noch Geschwister, was aus ihr geworden war? Doch. „Lehrerin“ sei Rosemary, im „Mittleren Westen“, log Joseph Kennedy Schwester Jean an. Und auch Mutter Rose hatte er vorher nicht über die Lobotomie unterrichtet, die das Leben ihrer Tochter so furchtbar verändern sollte.
Diese Tat sollte das Ehepaar für den Rest seines Lebens entzweien. Ein Schlaganfall ereilte Joseph Kennedy Ende 1961, Rose baute anschließend wieder eine Beziehung zu Rosemary in Wisconsin auf. Eine schwierige Beziehung. Beim ersten Wiedersehen von Mutter und Tochter hieb Rosemary auf Rose ein. Später wurde es besser, obwohl Rose Kennedy den Rest ihres Lebens darunter litt, was ihrem Kind widerfahren war. „Oh, Rosie, was haben wir dir angetan?“, ließ sie ihren Gefühlen einmal freien Lauf.
Rosemary Kennedy starb 2005. Doch indirekt hat sie der Welt ein Erbe hinterlassen. Ihre Schwester Eunice Kennedy-Shriver setzte sich über Jahrzehnte für die Rechte von Menschen mit Behinderungen ein – die Special Olympics World Games sind ein Ergebnis dieser Bemühungen.