Der ARD-Dokuserie „Schicksalsjahre einer Kanzlerin“ gelingt ein facettenreicher Blick auf die Ära Angela Merkel aus heutiger Sicht. Doch was bleibt von ihrer Zeit als Bundeskanzlerin?

Eine öffentlich-rechtliche Dokuserie zum 70. Geburtstag Angela Merkels am 17. Juli, überschrieben mit dem „Sissi“-haften Titel „Schicksalsjahre einer Kanzlerin“ – da mag bei manchem Zuschauer Skepsis aufkommen: Wird hier womöglich ein weihevolles Biopic gereicht, eine Hommage an die Jubilarin, deren „Normalität in Perfektion“ kürzlich sogar der Grüne Robert Habeck lobte?

Um es vorwegzunehmen: Die fünfmal 30 Minuten umfassende Auftragsproduktion von RBB, MDR, SWR und allen ARD-Landesrundfunkanstalten zerstreut solche Befürchtungen schnell. Dafür, dass der Blick auf Merkels Schaffen multiperspektivisch und nicht unkritisch ausfällt, sorgt allein schon die bunte und dezidiert auch junge Kommentatorenschar, die Filmautor Tim Evers um Einschätzungen gebeten hat.

„Nein, sie hat nicht durch die Krise gesteuert, sie hat die Krise verzögert“, sagt etwa die ukrainisch-deutsche Publizistin Marina Weisband über die „Sie kennen mich“-Kanzlerin. „Ich glaube, kein Mensch kennt Angela Merkel“, stellt die Autorin Samira El Ouassil klar.

Der YouTuber LeFloid, der Merkel 2015 viel beachtet interviewte, äußert zwar dezent Respekt vor ihrer legendären Raute als weltweitem „Signature Move“ (zu Deutsch etwa „typische Geste“), bescheinigt der Ex-Regierungschefin aber auch Teflon-Eigenschaften.

2024-07-08 07:50:18.836 – 1720425018836

Der Journalist Tilo Jung kreidet ihr an, mit ihrem moderativen, konfliktscheuen Stil „junge Leute entpolitisiert“ zu haben, und erklärt den Begriff „merkeln“ trocken als „die Vorgängerversion von scholzen“.

Neben weiteren Journalisten wie Evelyn Roll („Süddeutsche Zeitung“) und Christoph Dieckmann („Die Zeit“) kommen u. a. auch die Politikwissenschaftlerin Claudia Major, die Klimaaktivistin Carla Reemtsma und Wegbegleiter Merkels wie der ehemalige Innenminister Thomas de Maizière oder ihre gescheiterte Wunsch-Nachfolgerin Annegret Kramp-Karrenbauer zu Wort.

Verbunden und teilweise illustriert werden die Thesen mit reichhaltigem Archivmaterial, einem knackigen Off-Kommentar („Ist sie schüchtern? Sieht nicht so aus. Sie weiß, wo die Kamera ist.“) und vor allem einer erfrischend frechen Musikuntermalung. Ja, die Machart mit schnellen Schnitten und Split-Screen-Technik ist populär, und ja, zu Bildern der jungen Angela Merkel auf einem Betriebsausflug im Sommer 1980 wird auch der unvermeidliche Stones-Klassiker „Angie“ eingespielt.

Aber ihren Wechsel von der Physik in die Politik mit Nick Kamens „I Promised Myself“ zu unterlegen oder ihren „Königsmord“ am Spendenaffären-geschwächten Helmut Kohl mit Sophie Ellis-Bextors „Murder on the Dancefloor“, hat durchaus Charme und Witz. Leitmotivisch und sehr effektvoll über alle Folgen hinweg wird die Zeile „It doesn’t hurt me (yeah, yeah, yo)“ aus dem Kate-Bush-Song „Running Up That Hill“ eingesetzt.

Neuer Blick auf deutsche Russlandpolitik

So empathisch der zu DDR-Zeiten in Brandenburg aufgewachsene Filmautor Tim Evers auf Merkels frühe Ost-Jahre blickt, so eindrücklich er ihren schweren Stand als Frau in der männerbündischen CDU schildert (hier kommt ein gewisser „Roland Kotz“ ins Spiel), so sehr macht er allerdings auch bewusst, wie der russische Angriffskrieg gegen die Ukraine eine Neubewertung von Merkels Russland- und Energiepolitik ausgelöst hat.

Geradezu frösteln lässt der Erzählstrang mit Wladimir Putin, der von dessen auf Deutsch gehaltener Rede im Bundestag 2001 über den Eklat bei der Münchner Sicherheitskonferenz 2007 bis zum bitter gebrochenen Minsker Friedensabkommen 2015 führt.

Dass der Grundstein für die fatale deutsche Gas-Abhängigkeit vom Kremldiktator noch von Merkels SPD-Vorgänger Gerhard Schröder gelegt wurde, ruft die Doku genauso in Erinnerung wie die Tatsache, dass Merkel die Nord-Stream-Pipelines von Beginn an unterstützte. Dass ihr erster Zitteranfall im Sommer 2019 ausgerechnet beim Empfang des ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj auftrat, wirkt im Nachhinein wie ein unheilvolles Omen.

Auch innenpolitisch legt der Fünfteiler den Finger in manche Wunde. Etwa die, dass es ja Angela Merkels Begriff von der „Alternativlosigkeit“ der Euro-Rettung war, der Pate stand bei der Namensfindung der 2013 gegründeten AfD. Oder die, dass ihr Satz „Wir schaffen das“ in der Flüchtlingskrise 2015 ihre Gegner erst recht provozierte – genauso wie ihre später vom Bundesverfassungsgericht gerügte Rüge der Ministerpräsidentenwahl in Thüringen Anfang 2020 („unverzeihlich“).

Share.
Exit mobile version