Bei „Markus Lanz“ durften sich Lehrer ihren Frust von der Seele reden. Ein Bildungsforscher rechnete vor, wie stark die Leistung in Mathematik seit 2009 gesunken ist.
Ist der deutsche Bildungsapparat auf die großen gesellschaftlichen und technologischen Veränderungen gut vorbereitet? Talkshow-Moderator Markus Lanz ließ am Mittwochabend den Bundestagswahlkampf Wahlkampf sein und widmete sich mit seinen Gästen stattdessen einem Thema, das ebenfalls aktuell und kontrovers ist, aber deutlich weniger Aufmerksamkeit erfährt: den schwierigen Zuständen an deutschen Schulen.
„Die Probleme im Bildungssystem kann man sich so vorstellen: Wir müssen gerade sozusagen eine Propellermaschine umbauen in einen Düsenjet, weil wir im 21. Jahrhundert ankommen wollen, während die Tragflächen brennen und wir die Piloten nicht verstehen“, versuchte der Lehrer und Bildungsinfluencer Bob Blume die Lage auf den Punkt zu bringen.
- Silke Müller, Schulleiterin
- Steffen Sibler, Grundschulleiter
- Olaf Köller, Bildungsforscher
- Bob Blume, Lehrer
Obwohl jährlich 50.000 Schüler und Schülerinnen die Schule ohne Abschluss verließen und bis ins Jahr 2035 voraussichtlich 85.000 Lehrkräfte fehlten, werde in der breiten Öffentlichkeit kaum darüber diskutiert. „Die Frage ‚Wie wollen wir im 21. Jahrhundert lernen?‘, diese Debatte findet nicht statt“, beklagte Blume hörbar frustriert.
Dieser Einschätzung wollte in der Runde niemand widersprechen. Auch sonst bestätigten sich die anwesenden Bildungsexperten größtenteils gegenseitig in ihren meist negativen Analysen. „Wir stehen 2024 eigentlich in etwa wieder da, wo wir 2000 standen, als der sogenannte Pisa-Schock kam. Vielleicht steht es sogar noch etwas schlechter um das deutsche Bildungssystem“, erklärte Olaf Köller.
Drei von zehn Schülern könnten im Alter von fünfzehn Jahren im Prinzip weder lesen oder schreiben noch rechnen, so der Bildungsforscher. Als Grund für die erneute Verschlechterung nach zwischenzeitlichen Erfolgen führte der Wissenschaftler unter anderem an, dass sich die Schülerschaft stark verändert habe. Mehr Schülerinnen und Schüler kämen inzwischen aus bildungsfernen Familien und solchen, in denen Deutsch nicht die erste Sprache sei.
Gleichzeitig seien die veralteten Themen und didaktischen Vorgehensweisen nicht geeignet, die Kinder und Jugendlichen von heute zu erreichen. Die Lehrkräfte hätten Schwierigkeiten, an das Erleben der Schüler anzuknüpfen und sie zu motivieren.
„Der Lebensweltbezug im Unterricht für die Kinder ist wahnsinnig wichtig“, unterstrich Steffen Sibler die Bedeutung dieses Punkts. Der Leiter der Otto-Wels-Grundschule in Berlin-Kreuzberg berichtete zudem vom Gewaltpotenzial unter den Kindern und der ausufernden Nutzung von Social-Media-Kanälen. Selbst mitten in der Nacht werde in einer Menge und einer Masse digital kommuniziert, die man sich kaum vorstellen könne. Unter den Eltern sei das Setzen von Grenzen in diesem Bereich das Top-Thema.
Zu den wachsenden Problemen gehören dem Grundschulleiter zufolge auch Dinge wie die Impulskontrolle, die Fähigkeit, sich an Regeln halten und sich in andere hineinversetzen zu können, oder körperliche Defizite wie Übergewicht.
„Es ist eben wichtig, sich klarzumachen, dass die Kinder auch mehr feinmotorische, mehr grobmotorische Schwierigkeiten haben. Die können sich nicht nur die Schuhe nicht zubinden, die können auch nicht rückwartslaufen, die können keinen Purzelbaum schlagen. Sie sind immer häufiger adipös, schon wenn sie in die Grundschule kommen“, zählte Sibler auf.
Eine Ursache für diese Missstände erkannte die Pädagogin Silke Müller in einem veränderten Blick der Gesellschaft und vieler, wenngleich nicht aller Familien auf den eigenen Nachwuchs. „Kinder stehen nicht mehr im Fokus“, konstatierte die Leiterin der Waldschule Hatten und erste Digitalbotschafterin Niedersachsens.
Die Auswirkungen, die solche Entwicklungen auf das Lehrpersonal haben, beschrieb sie folgendermaßen: „Uns wird nichts weggenommen, sondern es kommt immer noch obendrauf. Wir sind einfach auch unfassbar belastet, das kommt neben der Frustration dazu.“ Wichtig seien in der gegenwärtigen Situation ein Langzeitplan und der Leistungsgedanke, betonte Müller.
Dass es mit Letzterem ein generelles Problem gibt, legte auch Köller dar. „Das ist ein gesellschaftliches Phänomen, was wir eben auch in Schulen beobachten: Anstrengung scheint nicht mehr goutiert zu werden, und insofern werden auch die Ansprüche niedriger gesetzt“, so der Professor am IPN Leibniz-Institut für die Pädagogik der Naturwissenschaften und Mathematik. Die Schülerinnen und Schüler machten die Erfahrung, dass sie mit weniger durchkämen. Wofür ein Gymnasiast im Fach Mathematik 2009 eine Vier bekommen habe, sei heute eine Zwei wert, rechnete Köller vor. Das entspreche einer Leistungsdifferenz von anderthalb Schuljahren und könne nur mit einer Absenkung des Leistungsniveaus zu tun haben.
Angesichts der vielen und großen Schwierigkeiten, von denen berichtet wurde, überraschte es fast, dass die Lehrerin und die beiden Lehrer in der Talkrunde ihrem Beruf offensichtlich mit großem Engagement nachgehen und damit nicht allein zu sein scheinen. Die Lehrkräfte, die am Limit seien, fielen deshalb nicht um, weil sie den Wert erkennen würden, den es für Kinder und Jugendliche habe, ihre Potenziale entfalten zu können, lautete Blumes Erklärung. „Das lohnt sich so sehr“, sagte er und fügte als Mahnung hinzu, „in diesem Industrieland, das nichts anderes hat als Bildung“.