Der Wahlkampf ist über Nacht losgebrochen, und die Befürchtungen groß, dass er schmutzig wird. Aber vielfache Kritik an Politikern ist nicht gleich eine Schmutzkampagne.
Gut ein Dutzend Frauen kritisieren auf TikTok im Laufe mehrerer Tage CDU-Kanzlerkandidat Friedrich Merz. Parallel behauptet ein Medienartikel, die SPD plane eine „Schmutzkampagne“ gegen den CDU-Chef, 100 Frauen sollten vor Merz warnen. Was sich am vergangenen Samstag im Netz entwickelte, ist ein Lehrstück: Es zeigt, wie schwer in Wahlkampfzeiten authentischer Unmut und gesteuerte Kampagnen zu unterscheiden sind – und wie manche beides gezielt vermischen.
Es ist ein Stück in mehreren Akten. Eigentlich beginnt es mit Videos von Frauen auf TikTok, die in den vergangenen Tagen vermehrt hochgeladen wurden. Mal geht es darin um Friedrich Merz‘ Frauenbild, mal um die Unterstützung der Ukraine, dann um vermeintlichen Rechtspopulismus. Manche der Videos stammen von SPDlerinnen, manche von weiblichen AfD-Anhängern, einige der Frauen sind ohne Parteibindung. Die Videos sind aber noch gar nicht auf der großen Bühne erschienen, als sich bereits der Vorhang zu einem Stück öffnet, in dem Merz selbst und sein Umfeld gar nicht auftreten, dafür Medien wie „Focus online“, „Nius“ und diverse CDU-Netzaktivisten.
Erster Akt, der „Focus“-Artikel: Am Samstagabend veröffentlicht „Focus online“ einen Text unter dem Titel: „Wahlkampf aus der untersten Schublade: SPD plant Schmutzkampagne! Frauen sollen Angst vor Friedrich Merz schüren“. Nach „exklusiven Focus online-Informationen“ plane die SPD, 100 Frauen in Spots Angst vor Merz schüren zu lassen. Die CDU soll demnach davon wissen, „Focus online“ lässt einen CDU-Insider über die SPD herziehen, hat die SPD aber nicht zu dem Vorwurf gefragt. Dass es zu diesem Zeitpunkt bereits veröffentlichte Videos gibt, in denen Frauen Merz kritisieren, davon ist in dem Beitrag keine Rede.
Zweiter Akt, die Reaktionen: Der „Focus online“-Artikel wird umgehend rege und mit Empörung über die SPD in sozialen Medien geteilt, auch CDU-Abgeordnete und -Funktionäre leiten ihn weiter. Erste Nutzer erinnern sich, dass sie schon Videos gesehen haben, in denen Frauen sich kritisch über Merz äußern. Große Aufmerksamkeit verschafft ihnen Finn Werner mit seinem X-Auftritt. Werner war früher mal Social-Media-Manager der CSU. Jetzt arbeitet er unter anderem für die rechtskonservative PR-Agentur „The Republic“.
Werner postet auf X anderthalb Stunden nach Erscheinen des Artikels ein Video einer TikTokerin und schreibt dazu, er sei fassungslos. Dann folgen von ihm die „Beweisstücke B bis L“ – weitere Videos von Frauen, die sich auf TikTok kritisch über Merz äußern. Drei Tage später sagt er t-online dazu: „Wir dachten: ein Elfmeter für den Wahlkampf.“ Seine Tweets verstärken den Eindruck: Was „Focus online“ geschrieben hat, läuft bereits: eine konzertierte Kampagne gegen die CDU.
Der Hintergrund – Kampagnen gegen die CDU: Tatsächlich gibt es durchaus Kampagnen gegen Parteien, die nach Graswurzel-Protest aussehen sollen. Die Vernetzung über das Internet erleichtert dies ungemein. Sie bleiben dennoch meist weitgehend im Hintergrund. Vor der Bundestagswahl 2017 wurde bekannt, dass sich Rechtsextreme als „Reconquista Germanica“ zusammengeschlossen und Attacken im Netz verabredet hatten.
Auch 2021 vernetzte sich eine Telegram-Gruppe mit mehr als 1.000 Mitgliedern, die sich „Zerstörung der CDU“ nannte, zu konzertierten Aktionen in den sozialen Medien. Dahinter steckten maßgeblich Akteure von Fridays for Future, nicht aber die Organisation selbst. In der Gruppe wurde abgesprochen, wie Hashtags und Nachrichten durch ein abgestimmtes gemeinsames Posten möglichst gut zu verbreiten seien. Der damalige CDU-Kanzlerkandidat Armin Laschet wurde zeitweise alle zwei Tage zum Ziel. Ein Organisator fand auf Anfrage von t-online nicht kritikwürdig, dass diese Aktionen abgesprochen waren. „Demos auf der Straße plant man ja auch vorher“, sagte er damals.
Es war also zunächst vorstellbar, dass es tatsächlich eine gesteuerte Anti-CDU-Kampagne gibt.
Der SPD-Landtagsabgeordnete Bengt Bergt hatte zudem gerade erst ein Fake-Video mit künstlicher Intelligenz erstellen lassen, in dem sich Merz abfällig über die Demokratie äußert. Das wurde allerdings zeitnah von der SPD-Spitze kritisiert und Bergt entschuldigte sich schriftlich bei Merz. Von Unions-Unterstützern wurde es nun im Zusammenhang mit dem „Focus online“-Bericht im Netz dennoch als Beleg für SPD-Schmutzkampagnen angeführt. Ebenso eine Untersuchung der Bundeswehr-Universität zur bayerischen Landtagswahl 2023, der zufolge die SPD für das meiste negative Campaigning verantwortlich war, also für Aussagen, die den politischen Gegner schlechtmachen. Allerdings ist es nicht ungewöhnlich, dass – wie im bayerischen Fall – Oppositionsparteien politische Gegner stärker angreifen als Regierungsparteien.