Am 15. November 2014 wurde Tuğçe A., nachdem sie helfen wollte, auf dem McDonald’s-Parkplatz in Offenbach niedergeschlagen. Sie starb an den Verletzungen. Dieser McDonald’s hätte damals als Schutzraum dienen sollen, erinnert sich unsere Autorin.
Mein Brustkorb ist erschöpft von den Bässen, die ihn seit Stunden zum Wummern bringen. Mir ist heiß, meine Füße werden immer schwerer, meine Ohren fiepen. Ich tippe meiner Freundin auf die Schulter und frage sie, ob wir gehen wollen. Es ist eine dieser Nächte, in denen meine Freundinnen und ich im „Robert“ tanzen, tanzen, tanzen. Bis wir nicht mehr können.
Das „Robert“ heißt eigentlich Robert Johnson und ist ein Technoclub in Offenbach. Er liegt direkt am Main. Zur S-Bahn-Station „Kaiserlei“ sind es etwa zehn Minuten zu Fuß. Wäre damals direkt eine S-Bahn gekommen, wäre ich in einer halben Stunde im Bett gewesen und hätte meinen Rausch ausschlafen können.
2014 war der S-Bahn-Verkehr nachts allerdings für einige Stunden stillgelegt. Im Winter in der S-Bahn-Station zu warten, bis endlich die erste Bahn kommen würde, war keine Option – zu kalt, zu dunkel und vor allem: zu menschenleer. Viele Menschen sind besser als keine Menschen, wenn ich nachts allein unterwegs bin. Etwas, das jede Frau weiß.
Oft gingen wir deshalb nicht zur S-Bahn, sondern in den McDonald’s, der unmittelbar an die Station grenzt. Und nicht nur wir gingen dorthin, sondern alle, die ein ähnliches Schicksal teilten und noch nicht nach Hause konnten oder wollten. Köpfe lagen auf den Tischen und schlummerten in Ketchup-Resten, betrunkene Jungs grölten oder kümmerten sich um den einen, dem es nicht mehr so gut ging. Gruppen junger Frauen hatten einander im Blick, begleiteten einander zur Toilette im Untergeschoss.
Dieser McDonald’s war nicht nur ein Ort, der nach Pommes roch und piepste. Wir fühlten uns dort sicher. Bis es plötzlich nicht mehr sicher war. Nie wieder saßen wir nachts in diesem McDonald’s.
Ich weiß nicht mehr, wo ich war, als ich davon erfuhr, was mit Tuğçe A. passiert war. Aber auch heute, jetzt gerade, fühle ich mein Herz rasen, wenn ich an den Fall denke. Zehn Jahre ist es her, dass Tuğçe A. starb, weil sie tat, was mich sicher hat fühlen lassen: Sie stand einer von uns zur Seite.
Ein Mann belästigte eine 13-Jährige auf den Toiletten im McDonald’s. Tuğçe A. setzte sich für sie ein. Der Streit eskalierte und derselbe Mann schlug Tuğçe A. auf dem Parkplatz des Schnellrestaurants nieder. Der damals 18-jährige Täter wurde später zu drei Jahren Jugendhaft wegen Körperverletzung mit Todesfolge verurteilt. Zwei Jahre nach der Tat wurde er nach Serbien abgeschoben. Tuğçe A. starb knapp zwei Wochen nach dem Schlag im Krankenhaus. Sie starb, weil sie Zivilcourage zeigte.
Hätte mir das auch passieren können? Tuğçe A. löste in mir viele Gefühle aus. Ich war fassungslos, obwohl ich die Angst vor solch einer Tat schon oft gespürt hatte. Obwohl ich wusste und weiß, dass zu viele Frauen vor zu vielen Männern nie sicher sind. Ich trauerte um eine Frau, die ich nicht kannte – weil sie eine von uns war. Ich weiß nicht, ob ich so mutig gewesen wäre wie sie. Ob ich es in Kauf genommen hätte, dass dieser Mann, der ein anderes Mädchen belästigt hatte, mir am Ende gefährlich wird.
Bereits kurz nach ihrem Tod diskutierten Menschen, ob Tuğçe A. zu frech gewesen sei, ob sie den Täter beleidigt und Mitschuld an der Tat hatte. Es wurde diskutiert, aus welchen Kreisen sie und der Täter kamen, welche Schulen sie besucht hatten, ob sie sich kannten.
Diese Debatten machten mich wütend und sie tun es heute noch. Es war mir egal, was sie zu diesem Mann gesagt hat, es war mir egal, ob auch sie ihn gestoßen, ob sie ihn provoziert haben könnte. Es war mir egal, was diesen Mann dazu brachte, wer er war, wie er sich fühlte, was diese enorme Wut in ihm auslöste, Tuğçe A. niederzuschlagen. Er hatte es getan.
Tuğçe A. überlebte es nicht.